„Lotte Errell – Reisefotografin in den 1930er Jahren“
Kommentar zu „Familienidyll mit SA-Mann“

von Vincenzo Velella, Besucherdienst


Die Wechselfälle der gegenwärtigen Pandemie haben es mit sich gebracht, daß wir im Hause am 12. März eine Ausstellung von Werken der in Münster geborenen Fotografin Lotte Errell, geb. Rosenberg (1902 – 1991) aufgebaut haben, jedoch das Museum geschlossen bleiben mußte. Lotte Errell bereiste unter anderem den Nahen Osten kurz nach dem Untergang des osmanischen Reiches und afrikanische Regionen, die von europäischen Ländern vor Jahrzehnten unter sich aufgeteilt worden waren. Ihre Fotoreportagen zeugen von einem unabhängigen, persönlichen Blick auf die Menschen und Phänomene, die sie dokumentierte, von kreativer Neugier und einem genuinen Interesse an fremden und befremdlichen Kulturen und Denkweisen. Die von Thomas Ridder, dem Kurator des Jüdischen Museums Westfalen, betreute Sonderausstellung ist noch bis zum 6. Juni zu sehen. Eine Fotografie hat meine besondere Aufmerksamkeit gefunden. Ich möchte sie Ihnen vorstellen. Ich nenne sie

 

„Familienidyll mit SA-Mann“

Das Haus hat zwei  – wenn auch kleine – Giebel. Die Hausfrau ist sauber gekleidet und trägt einen modernen, zeitgemäßen Haarschnitt, schöne Schuhe, weiße Socken und Kleidung mit weißer Bordüre. Der Junge neben ihr ist gut gekämmt, hat kurze Hosen und knielange Strümpfe. Ein Jägerzaun begrenzt den Garten, in dem hohe Sträucher wachsen. Man sieht noch ein Fahrrad mit Rennlenker, ein Gegenstand, der in dem Milieu nicht oft anzutreffen gewesen ist, und ganz rechts den Familienvater. Er blickt auf seine Frau und trägt eine SA-Uniform. Dies alles wäre nicht ungewöhnlich für ein Bild, das etwa 1933 entstanden ist, wäre nicht das Unterrather Heinefeld in Düsseldorf Schauplatz dieses Bildes, und nicht etwa eine Kleingartenanlage.

Nach dem Abzug französischer und belgischer Truppen aus dem Rheinland in der Mitte der 1920er Jahre ließen sich, wie eine zeitgenössische Quelle schreibt, ‚Alleinerziehende mit Kindern, Alleinstehende, Dauerarbeitslose, meist bitter arme, junge Leute, die ihre Mieten nicht mehr bezahlen konnten und die nicht in die Obdachlosenasyle ziehen wollten‘ auf dem ehemaligen Militärgelände zuerst in Baracken und alten Munitionsdepots nieder. Bis April 1933 wuchs die wilde Siedlung ‚Op de Heid‘ bis auf etwa 3000 Personen an und wurde die größte informelle Siedlung im Deutschen Reich, ohne Infrastruktur, Kanalisation und Elektrizität. Teilweise wurden, mit Geldern des Reichsprogramms für vorstädtische Kleinsiedlungen (VKS), weitere Parzellen angekauft und zur Verfügung gestellt. Die KPD bezeichnete dieses Vorgehen als ‚Leimrute‘: „So wurde für 70.000 Erwerbslose die Unterstützung gekürzt, während 280 Siedler an den Stadtrand abgeschoben wurden.“ Wie wir es auch von heute kennen, regte sich auch Widerstand gegen den Zuzug als unliebsam empfundener Personen: „der Wirtschaftsbund, die Partei der Hauseigentümer, bemängelte, daß die Qualität des vorgesehenen Baulandes nicht geeignet sei, um dort Gärten anzulegen. Der eigentliche Grund für den Widerstand gegen die Siedlungsplanung war die Sorge, daß die Grundstücke und damit auch der Hausbesitz durch die entstehende Nachbarschaft … entwertet würde.“

Die häufig geäußerte Vermutung, viele der Menschen auf dem Heinefeld seien kriminell, beruht weniger auf Tatsachen, als auf den Vorurteilen zahlreicher Bürger. Die Siedler entwickelten in ihrem Ghetto vor den Toren der Stadt einen ausgeprägten Gemeinschaftssinn, was auch einige der ausgestellten Bilder nahelegen, der spontan organisierte Kindergarten auf dem Kohlfeld beispielsweise, oder der eigene Anbau von Gemüse in den Vorgärten bzw. die Zucht von Kleintieren für den Eigenbedarf. Freilich ist die Armut der Menschen nicht zu übersehen, die beengten Verhältnisse, der vielen Kinder. Es waren Menschen, die das Leben hart angefaßt hatte. Das Bild links von unserer Kleinfamilie zeigt einen Mann beim Füttern seiner Kaninchen. Er hat eine gebrochene Nase. In diesem Zusammenhang ist der relative Wohlstand unserer beschriebenen Familie wohl auf die Möglichkeit sozialen Aufstiegs durch Mitgliedschaft in einer Partei zu erklären, deren vergiftetes Versprechen an die kleinen Leute es war, die Verhältnisse grundlegend zu bessern, und die in frühen Wahlplakaten vom ‚Prolet-Arier‘ sprach.

Ab 1935 wurde begonnen, das Gelände zu räumen. Die Menschen wurden zwangsweise einer ‚erbbiologischen Untersuchung‘ zugeführt, Sinti und ‚Erbkranke‘ deportiert und später ermordet. Otto Pankok hatte kurz zuvor Freundschaft mit einigen Sinti-Familien geschlossen. Seine Bilder wurden vor einigen Jahren hier im Museum gezeigt. Er schreibt:

Ach, Freunde, wohin seid ihr verweht, wo seid ihr zertreten, in welche Gruben haben euch schutzlose Kinder die Würger verscharrt wie Dreck? Man zerrte sie fort in die Todeslager und die östlichen Schlachthäuser. Wir hörten die Kinder schreien und die Mütter schluchzen unter den Peitschen der braunen Henker. Noch bevor die Synagogen aufloderten, waren die Zigeunerfamilien hinter den Gittern des Stacheldrahtes zusammengepfercht, um später das jüdische Schicksal in den Todeslagern des Ostens zu teilen.“

(Mai 2021)

 

Bilder:

Titelbild: Alex Andrews, pexels.com

Bild im Text: Ausschnitt aus der Ausstellung „Lotte Errell – Reisefotografin in den 1930er Jahren“