Jüdinnen in der ersten Frauenbewegung? Keine Seltenheit!

Jüdinnen in der ersten Frauenbewegung? Keine Seltenheit!

von Dalia Diepa Glauer, Praktikantin


Am 12. Oktober 2025 eröffnet das Jüdische Museum Westfalen die Ausstellung „Rafft euch empor! Jüdische Aktivistinnen aus Westfalen in der ersten Frauenbewegung“. Als studentische Praktikantin habe ich an der Entwicklung der Ausstellung mitgewirkt: Ich habe historische Sekundärliteratur durchforstet, mehrere Archive besucht, Ausstellungstexte verfasst, nach Ausstellungsobjekten gesucht… Und natürlich habe ich meinem Umfeld ganz begeistert von dieser Arbeit erzählt. Einige Male folgte darauf die Rückfrage, ob denn viele Jüdinnen in der ersten Frauenbewegung aktiv waren. Und die Antwort ist sehr eindeutig: Ja.

Laut der Erziehungswissenschaftlerin und Historikerin Sabine Toppe waren ein Drittel aller Frauenrechtlerinnen im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik Jüdinnen – und das, obwohl Juden*Jüdinnen nur etwa 1 % der deutschen Bevölkerung ausmachten. Jüdinnen waren also deutlich überproportional in der ersten Frauenbewegung vertreten. Warum war das so?

Zum einen sind die Hintergründe demografischer Natur:

Im Laufe des 19. Jahrhunderts stiegen Juden*Jüdinnen in Deutschland von einer Gruppe, die größtenteils der Unterschicht angehörte, zu einer mehrheitlich bürgerlichen Bevölkerungsgruppe auf. Anders als in den Nachbarländern war die soziale und rechtliche Gleichstellung nämlich an die Voraussetzung geknüpft, sich an deutsche Werte und Normen anzupassen. Und diese Werte und Normen folgten einem bürgerlichen Ideal. Um die Emanzipation zu erreichen, mussten Juden*Jüdinnen also bürgerliche Denk- und Verhaltensweisen übernehmen. 1871, als das Deutsche Kaiserreich gegründet wurde, erhielten sie dann die rechtliche Gleichstellung. In Verbindung mit neuen beruflichen Möglichkeiten, die die Industrialisierung mit sich brachte, vollzog sich der soziale Aufstieg nun noch schneller. So kam es, dass die meisten jüdischen Frauen im Kaiserreich wirtschaftlich gut situiert waren. Sie mussten nicht durch Lohnarbeit zum Familieneinkommen beitragen und konnten sich Haushaltshilfen und Haushaltsgeräte leisten. Dadurch hatten sie Zeit für soziales Engagement außerhalb des Hauses. Als erste religiöse Gruppe Deutschlands, die Geburtenkontrolle praktizierte, waren sie außerdem weniger durch Schwangerschaft, Geburt und Kindererziehung eingespannt als andere Bevölkerungsgruppen.

Ein weiterer demografischer Faktor ist die Tatsache, dass die meisten Juden*Jüdinnen in Städten lebten. Da sich die erste Frauenbewegung vor allem in Städten formierte, waren sie in nächster Nähe des Geschehens.

Neben demografischen Gründen spielt auch die jüdische Religion eine Rolle: Die ,Zedaka‘, ein jüdisches Gebot, schreibt vor, dass arme Menschen ein Anrecht auf Hilfeleistungen von wohlhabenden Menschen haben. Davon ausgehend entwickelte sich soziales Engagement zu einem festen Bestandteil des religiösen jüdischen Lebens – sowohl für Männer als auch für Frauen. Für jüdische Frauen war soziales Engagement aber besonders attraktiv, denn es bot ihnen einen Ausweg aus der häuslichen Sphäre, ohne dass sie die vorherrschenden Geschlechterideale herausfordern mussten. 1892 soll es im Kaiserreich über 600 von Jüdinnen geleitete oder mitgestaltete Wohltätigkeitsvereine gegeben haben. Von da aus war es kein weiter Weg zum Engagement für Frauenrechte. Mentalität und Gewohnheit, sich für gute Zwecke einzusetzen, sowie organisierte Strukturen lagen bereits vor.

Bertha Pappenheim, Foto gemeinfrei

 

1904 gründeten Bertha Pappenheim und Sidonie Werner dann zur Bündelung der jüdischen Frauenvereine den Jüdischen Frauenbund. Dieser versuchte, die Stärkung der Position der Frau in der jüdischen Gemeinde mit der Emanzipation der Frau in Deutschland zu verbinden. Viele Jüdinnen fanden über den Jüdischen Frauenbund in die Frauenbewegung hinein, was – so Marion A. Kaplan – nicht zuletzt an der charismatischen Persönlichkeit Bertha Pappenheims lag.

Es gab aber auch viele Jüdinnen, insbesondere säkulare Jüdinnen, die außerhalb jüdischer Vereine für Frauenrechte kämpften. Ebenso wie ihre nicht-jüdischen Mitstreiterinnen setzten sie sich für bessere Bildungschancen, Arbeiter*innenrechte, das Wahlrecht und Frauengesundheit ein. Manche gehörten dem gemäßigten Spektrum der Bewegung an, andere dem radikalen, manche identifizierten sich mit ihrem jüdischen Hintergrund, andere weniger. Sie alle waren aber zunehmend mit Antisemitismus konfrontiert. Und trotzdem kämpften sie mutig weiter, prägten die Frauenbewegung und erzielten wichtige Errungenschaften für Frauen in Deutschland.

 

Die erste Frauenbewegung ist also nicht ohne Jüdinnen zu denken. Trotzdem gehen sie in Erzählungen über die Frauenbewegung häufig unter. Die Ausstellung des Jüdischen Museums rückt nun neun jüdische Aktivistinnen in den Fokus. Sie kamen alle aus Westfalen und haben auf ganz unterschiedliche Art und Weise für Frauenrechte gekämpft – von der Automobilindustrie über Gedichte und Kleidung bis hin zum §218. Die Frauen werden nicht nur vorgestellt, sie werden auch in künstlerischer Interpretation von Studierenden der Hochschule Bielefeld zu sehen sein. Kommt vorbei und lasst euch inspirieren!

 

Literatur

Kaplan, Marion A.: Die jüdische Frauenbewegung in Deutschland. Organisation und Ziele des Jüdischen Frauenbundes 1904-1938, Hamburg 1981.

Lässig, Simone: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg, Göttingen 2004.

Loth, Heinz-Jürgen:  Armut/Reichtum: Judentum, in: Ethik der Weltreligionen: Ein Handbuch, Darmstadt 2005.

Rürup, Miriam: Demographie und soziale Strukturen, in: Hamburger Schlüsseldokumente zur deutsch-jüdischen Geschichte, 22.09.2016, DOI: https://dx.doi.org/10.23691/jgo:article-224.de.v1, zuletzt aufgerufen am: 27.06.2025.

Rürüp, Miriam: Jüdisches Leben in Deutschland vor 1945. 19. Jahrhundert, in: bpb.de (2022), online: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/juedisches-leben/504517/19-jahrhundert/, zuletzt aufgerufen am: 27.06.2025.

Toppe, Sabine: Zur Rolle jüdischer Frauen in der Entwicklung Sozialer Arbeit als (Frauen-) Beruf, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv (2024),

URL: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/themen/zur-rolle-juedischer-frauen-der-entwicklung-sozialer-arbeit-als-frauen-beruf, zuletzt aufgerufen am: 27.06.2025.