Materialien zum Thema „Lernen“

Auf dieser Seite finden Sie Texte und Links, die Ihnen vertiefte Einblicke in unsere Arbeit ermöglichen und zur Vor- oder Nachbereitung von Museumsbesuchen geeignet sind.

Antisemi-was?

In unserem Pilotprojekt „Antisemi-was? Reden wir darüber“ entstanden zwei Broschüren:

Antisemi … was? 7 Fragen zu Antisemitismus

Antisemi … was? GIBT`S BEI UNS NICHT!

 

Pädagogische Handreichung:
„Angekommen?! Jüdische Einwanderung 1990-2010“

Aus unserem Forschungs- und Ausstellungsprojekt „Angekommen?! Lebenswege jüdischer Einwanderer“ entstand u.a. eine Broschüre mit Materialien und pädagogischen Anregungen zum Thema „Jüdische Einwanderung nach Deutschland 1990-2010“. Gefördert wurde diese Veröffentlichung vom Leo Baeck-Programm. Sie enthält zu den wichtigsten mit dieser Einwanderung verknüpften Themen jeweils knappe thematische Skizzen, Quellenmaterialien vor allem aus unseren Interviews und Ideen zur didaktischen Umsetzung. Einzelexemplare können kostenlos im Museum angefordert werden unter info@jmw-dorsten.de. – Die Broschüre ist HIER zum Download bereitgestellt.

Monika Richarz:
Die Vita in der Vitrine.  
Biographische Zugänge in Geschichtsschreibung und Museum
(Festvortrag im Jüdischen Museum Dorsten zur Eröffnung der Dauerausstellung„Jüdische Lebenswege in Westfalen“ am 14. Januar 2004)
Dieser Text gibt vielfältige Erläuterungen zur Bedeutung des biographischen Prinzips, das in unserer Geschichts-Dauerausstellung zur Geltung kommt.

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Monika Richarz
Die Vita in der Vitrine. 
Biographische Zugänge in Geschichtsschreibung und Museum (Festvortrag im Jüdischen Museum Dorsten zur Eröffnung der Dauerausstellung „Jüdische Lebenswege in Westfalen“ am 14. Januar 2004)

Nichts interessiert den Menschen so sehr, wie der Mensch. „Der Historiker ist wie der Menschenfresser im Märchen, wo er Menschenfleisch wittert, da weiß er seine Beute“, so hat es der französische Historiker Marc Bloch ausgedrückt. Die historische Biographie hat immer fasziniert, erlaubt sie doch den Nachgeborenen eine Annäherung an Persönlichkeiten der Geschichte, die ihm gleichsam den Weg bahnen durch ihre Epoche. Das menschliche und das historische Interesse werden beim Leser gleichermaßen befriedigt. Biographie erlaubt Nähe, vertraut werden, Teilnahme, und ist doch auch informativ und bildend. Nicht zufällig ist die Biographie noch heute die populärste Gattung der Geschichtsschreibung, die das Publikum immer noch zu lesen und zu kaufen bereit ist. Die historische Biographie befriedigt nicht zuletzt menschliche Bedürfnisse nach Geschichten, nach unerhörten Begebenheiten, nach dem Reiz des Fremden, nach Helden und Heldenverehrung und nach Identifikation. Kurzum sie ist die älteste Gattung der Geschichtsschreibung und bis heute aktuell geblieben.

Dabei befindet sich die Gattung durchaus nicht immer auf höchstem Niveau. Eine Biographie wird begrenzt durch den Kopf ihres Verfassers, das heißt durch seine Intelligenz, seine historischen Kenntnisse der jeweiligen Epoche, seine Motivation und durch seine erzählerischen Fähigkeiten. Auf den Historiker als Biographen lauern überall Gefahren : er kann sich mit seinem Sujet zu sehr identifizieren, er kann es hemmungslos idealisieren oder es in den Rahmen einer ideologischen Interpretation sperren. Dennoch hat die Gattung Biographie die Historiker wie ihre Leser immer wieder gereizt. Dadurch sind viele Varianten von biographischer Literatur entstanden. Sie reichen von der Beschreibung großer historischer Figuren als Helden und Vorbilder bis zur Darstellung von NS Tätern in unserer Zeit. Historiker haben mit Biographien die unterschiedlichsten Ziele verfolgt. Biographien hatten Konjunktur oder galten als etwas veraltete historistische Gattung. Kurzum – auch die Biographie hat ihre Geschichte. Ich wäre eine schlechte Historikerin, wenn ich Ihnen nicht einen kleinen Einblick in diese Geschichte geben würde.

Biographien wurden schon in der griechischen Antike verfasst. Plutarch gilt als der eigentliche Begründer der Gattung. Ihm ging es darum, sittliche und edle Vorbilder zu beschreiben. In römischer Zeit waren Tacitus und Sueton die bekanntesten Biographen. Jetzt entwickelte sich die Kaiservita als eigene Literaturgattung, die in den Herrscherviten des Mittelalters ihre Fortsetzung fand. Als neue Gattung entstanden im Mittelalter die Viten der Heiligen, deren Vorbildlichkeit bereits kanonisiert war. Als bürgerliche Literaturgattung erlebte die historische Biographie in der Neuzeit ihre größte Popularität und Verbreitung. Die Wechselwirkung zwischen Persönlichkeit und Zeitgeschichte trat in den Mittelpunkt des Interesses. „Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen…“ schrieb Goethe im Vorwort zu „Dichtung und Wahrheit“. Die Biographie wurde zur bürgerlichen Bildungsgeschichte. Ihre Zeit höchster Konjunktur erreichte sie im 19.Jahrhundert. Droysen mit seiner Geschichte Alexander des Großen (1833) und Ranke mit der Geschichte Wallensteins (1869) etablierten die historische Biographie als Gattung der entstehenden modernen Geschichtswissenschaft. Während Ranke die personelle und die politische Geschichte in der Biographie verband, ging es Droysen allein um die Ausprägung eines politischen Denkens und Handelns in der Biographie. Ihren Höhepunkt erreichte die historistische Biographik in der borussischen Geschichtsschreibung des Kaiserreichs. Historiker wie Sybel, Mommsen und Treitschke schrieben über große preußische Persönlichkeiten Politikgeschichte im Dienste eines deutschen Nationalstaates unter preußischer Führung. Ihre Biographien gingen von politischen Überzeugungen aus und erstrebten politische Wirkung. Die Biographie wurde zum Instrument konservativer Politik und bürgerlicher Heldenverehrung. Nach Treitschkes bekanntem Wort waren es Männer, die die Geschichte machten und ,so könnte man hinzufügen, auch Männer, die sie schrieben und für den Nationalstolz des bürgerlichen Publikums aufbereiteten.

Diese Art der Biographie hat den Ruf der Gattung in der Nachwelt eher geschädigt als gefördert. Die Historiker der Bundesrepublik haben große politische Biographien lange eher gemieden, und das Bedürfnis nach Heldentum und Nationalstolz war nach dem Nationalsozialismus sehr dezimiert . Als seit den sechziger Jahren die Geschichte mehr und mehr als historische Sozialwissenschaft verstanden wurde, schien das Schicksal der historischen Biographie zugunsten einer eher abstrakten Strukturgeschichte der Gesellschaft besiegelt. Auch bei der Suche nach den Ursachen des Nationalsozialismus und des Holocaust wurde von den Faschismustheoretikern und den Strukturalisten das Individuum weitgehend ausgeblendet. Das war keine Zeit umfangreicher Biographik. Die großen Männer und die Geschichte der Eliten rückten in den Hintergrund, gefragt wurde nach Arbeitern, Frauen und sozialen Bewegungen. Mit der Oral History wurde der Versuch gemacht, erstmals auch die Lage der nicht historisch artikulierten Bevölkerungsmehrheit zu erforschen.

Und doch waren es letztendlich die Sozialgeschichte und die Oral History , die zu einer Erneuerung der Biographik unter gänzlich veränderten Bedingungen geführt haben. Die sozialgeschichtliche Biographieforschung basiert auf einer neuen theoretischen und methodischen Grundlage. Sie beschäftigt sich primär mit durchschnittlichen, nicht der Elite entstammenden Personen und sieht das Individuum nicht als autonomes Subjekt, sondern als bestimmt durch Interaktion und Kommunikation mit seiner sozialen Umwelt. Es existiert in Wechselwirkung mit Familie, peer groups oder sozialer Klasse. Im Vordergrund des Interesses der sozialgeschichtlichen Biographik steht die Frage nach dem Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft. Sie bezieht sich dabei nicht nur auf Individuen, sondern auch auf Gruppen und deren kollektive Biographien. Diese neue Biographik im Sinne einer historischen Sozialisationsforschung rekonstruiert die Produktion von Identität durch soziale Interaktion. Hinzu kommen neue psychologische, anthropologische und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen, die neben der sozial- und kulturgeschichtlichen Einbettung die Biographik entscheidend veränderten. Das neue Interesse am Individuum in der Geschichte zeigt sich auch in einer verstärkten Hinwendung zur Analyse autobiographischer Texte und anderer so genannter Ego –Dokumente. Generell hat sich die biographische Annäherung an die Geschichte methodisch sehr verfeinert, die sozialhistorische Analyse bohrt tiefer, das Individuum ist durchlöchert und die Helden haben sich verflüchtigt.

Die Erneuerung der Biographik spiegelt sich auch in der Zunahme der Publikationen zu diesem Thema. Schon 1988 wurde „Bios“ gegründet, die „Zeitschrift für Biographieforschung und Oral History“. Nicht zufällig stehen diese beiden Gattungsbegriffe im Titel nebeneinander. Die Oral History, also die Arbeit mit lebensgeschichtlichen Interviews, war es vor allem, die die Ausdehnung der Forschung auf die zeitgenössischen sozialen Unterschichten ermöglichte und zu neuen Fragestellungen an autobiographische Texte führte. In den letzten Jahren haben sowohl die Biographien wie die interdisziplinären Forschungen zur Biographik sehr zugenommen. Es erschienen zahlreiche Titel zur sozialgeschichtlichen Biographik und zur Geschichte der historischen Biographie, es entstanden Doktorandencolloquien zum Schreiben historischer Biographien und Zeitschriften widmeten der modernen Biographik Themenhefte. Die biographische Annäherung an die Geschichte lebt, ist keineswegs altmodisch, sondern hat sich methodisch und inhaltlich verjüngt.
Wenden wir uns nun in einem zweiten Kapitel der Biographie in der Geschichtsschreibung über das deutsche Judentum zu. Diese Geschichtsschreibung begann in ihrer modernen wissenschaftlichen Form wie die allgemeine deutsche Historiographie erst im 19.Jahrhundert und wurde bis nach dem Holocaust fast ausschließlich von Juden geleistet. In der deutsch-jüdischen Geschichte gab es weder Könige noch Feldherren, also nicht die klassischen Helden der älteren deutschen Biographik. Das Männlichkeitsideal war im traditionellen Judentum ein ganz anderes. Höchstes Ansehen genossen der Talmudgelehrte und der Rabbiner. Ihnen vor allem galt die biographische Geschichtsschreibung. Die modernen Rabbiner, die seit etwa 1830 zumeist den wissenschaftlich ausgebildeten Typus des Rabbiner – Doktors vertraten, verfassten neben der Geschichte ihrer jeweiligen Gemeinde gern Biographien ihrer rabbinischen Vorgänger. Moses Mendelssohn wurde, obgleich nicht Rabbiner, in diesen Kanon aufgenommen, doch Biographien über jüdische Persönlichkeiten ohne religiösen Bezug, waren noch bis ins 20.Jahrhundert selten. Dies erklärt sich nicht zuletzt daraus, daß es kaum jüdische Historiker gab, da diese an den Universitäten und Gymnasien keine Anstellung fanden.

Erst in der Weimarer Zeit nahm das Interesse an anderen bedeutenden Juden wirklich zu. So beispielsweise an den Hofjuden, an den Gründern der Wissenschaft des Judentums, an Künstlern und Wissenschaftlern. Hinzu kamen Biographien über bekannte Unternehmer, wie Rathenau oder Ballin. Diese Biographik der Elite hatte nicht selten einen erkennbar apologetischen Zug und wollte die Bedeutung von Juden für das deutsche Kultur- und Wirtschaftsleben bewusst herausstellen. Der Stolz auf diese Männer symbolisierte den Stolz auf sozialen Aufstieg und Integration und auf die Leistungen der jüdischen Bildungselite.

Nach der nationalsozialistischen Vertreibung und Vernichtung der deutschen Juden gab es in Deutschland jahrzehntelang kaum eine Geschichtsschreibung von Juden über Juden mehr. Soweit sie in der Emigration überlebt hatten, fanden sich an der deutsch-jüdischen Geschichte interessierte Juden seit 1955 im Leo Baeck Institut zusammen mit seinen drei Zentren in London, New York und Jerusalem. Dem Leo Baeck Institut ging es darum, die vernichtete deutsch –jüdische Kultur durch Sammlung ihrer Zeugnisse, durch Forschung und durch wissenschaftliche Veröffentlichungen für die Nachwelt zu bewahren. Dabei spielte die jüdische Einzelpersönlichkeit eine größere Rolle als jemals zuvor. Doch jetzt handelte es sich nicht mehr allein um die Eliten. Durch den Holocaust war jedes einzelne jüdische Leben und die Erinnerung daran kostbar geworden. Das Institut sammelte in seinem Archiv Hunderte von persönlichen Nachlässen bekannter und unbekannter deutscher Juden und legte eine Sammlung von über 1000 ungedruckten Autobiographien an. Einige von diesen reichten bis um 1800 zurück. Ein großer Teil dieser Selbstzeugnisse aber stammte von Emigranten und Überlebenden des Holocaust. Sie wurden geschrieben in dem Bewusstsein, von unerhörtem Geschehen Zeugnis ablegen zu müssen. Die Erfahrung des Einzelnen hatte überindividuelle historische Bedeutung gewonnen.

Was es niemals zuvor in Deutschland gegeben hatte, eine Forschung von Nichtjuden über jüdische Geschichte, das entwickelte sich seit etwa 1970 in der Bundesrepublik in wachsendem und erstaunlichen Umfang. Das erste Interesse dieser Nachkriegsgenerationen von Historikern und vieler engagierter Amateure richtete sich auf die Verfolgten und Ermordeten, von deren Geschichte noch immer Hunderte von Friedhöfen und Landsynagogen in Deutschland zeugten. So entstanden seit den achtziger Jahren Lokalgeschichten fast aller ehemaligen jüdischen Gemeinden in Deutschland, geschrieben von engagierten – und durchaus nicht immer sehr qualifizierten Deutschen, die damit bewusst oder unbewusst eine Art Trauerarbeit leisteten. In diesen Gemeindegeschichten spielten die ehemaligen jüdischen Bürger der jeweiligen Orte die wichtigste Rolle. Wenn möglich, und oft mit Hilfe von Emigranten und des Leo Baeck Instituts, wurden die Lebensgeschichten aller Familien am Ort rekonstruiert und Daten und Informationen über Zehntausende von Gemeindebürger mit enormem Aufwand zusammengetragen. Es handelte sich hier gleichsam um Gedenkbücher für die Vertriebenen und Ermordeten. Das Gedenken war der eigentliche Sinn und Anlass aller Post- Holocaust Biographik – bei Juden wie bei Nichtjuden. Den deutschen Autoren der Gemeindegeschichten ging es um die Rekonstruktion des Lebens der Opfer und um ihre Wiedereinsetzung in die Ortsgeschichte. Zu dieser Gedenkarbeit gehörte auch die Dokumentation der über 2000 jüdischen Friedhöfe in Deutschland, die eine Fülle biographischer und familiengeschichtlicher Informationen enthalten. Der Versuch der biographischen Annäherung an die Opfer zeigte sich in der Bundesrepublik nicht zuletzt in der Publikation von einer unermesslichen Zahl von Erinnerungen deutscher Juden.
Das bei Juden wie Nichtjuden so stark gewachsene biographische Interesse erstreckte sich jedoch nicht allein auf die Zeit des Nationalsozialismus, sondern umfasste auch die neuere deutsch-jüdische Geschichte als ganze. Die Wissenschafts- und Kulturgeschichte, die Germanistik und die Medizingeschichte widmeten bekannten und unbekannten Juden biographische Untersuchungen. Betrachtet man die im Jahrbuch des Leo Baeck Instituts jährlich erscheinende Bibliographie zur deutsch-jüdischen Geschichte, so stellt man fest, daß sich heute etwa ein Viertel der jährlich etwa 1200 Bücher und Aufsätze auf biographische und autobiographische Themen beziehen. Von der starken biographischen Aktivität zeugen auch die verschiedenen gruppenspezifischen Nachschlagewerke, die publiziert wurden. Ich nenne als Beispiele das bisher elfbändige Lexikon der deutschsprachigen jüdischen Schriftsteller von Renate Heuer, das Lexikon jüdischer Frauen oder das Biographische Handbuch der Rabbiner, dessen erster Teil gerade von Prof. Michael Brocke herausgebracht wurde. Einzelbiographien bedeutender Juden sind im Vergleich dazu in geringerer Zahl erschienen, aber es fehlt auch hier nicht an Beispielen, wie das Werk über Bleichröder, über die Warburg-Familie, über Moses Mendelssohn oder über Leo Baeck. Das Archiv des Leo Baeck Instituts hat einer großen Zahl von Forschern biographische und autobiographische Zeugnisse zur Verfügung gestellt und wird weiterhin die Basis für eine außerordentlich umfangreiche Biographik bilden.
Wenden wir uns nun in einem dritten Teil der Frage zu, ob und wie das biographische Interesse an der deutsch-jüdischen Geschichte auch in Museen Ausdruck fand. Die vor 1933 in Deutschland gegründeten jüdischen Museen waren Einrichtungen der jüdischen Gemeinden oder jüdischer Vereine .Sie wurden also von Juden und primär für ein jüdisches Publikum geschaffen und stellten ganz überwiegend künstlerisch wertvolle Ritualobjekte aus, wie z.B. Toravorhänge, Chanukkaleuchter oder Besomimgefäße. Deren Ästhetisierung und Musealisierung allein war unverkennbar ein Akt der Säkularisierung. Dieser Entwicklung folgend, zeigte sich auch bald „die bedeutende jüdische Persönlichkeit“ als Museumsobjekt, zumeist in Gestalt eines Ölgemäldes.

Noch weiter ging das „Museum für jüdische Altertümer“ – ein erstaunlich historisierender Name – das 1922 im ehemaligen Geschäftshaus der Rothschilds in Frankfurt a. M. eröffnet wurde. Es bestand aus einer Sammlung bedeutender Zeremonialkunst, betrieb aber daneben auch das „Rothschild Museum“ in den unveränderten Privatkontoren der letzten Vertreter des Frankfurter Zweiges der Rothschilds. Die Räume waren gefüllt mit Bildern, Dokumenten und Erinnerungsstücken zur Geschichte des Bankhauses. Dies dürfte wohl das erste jüdische Museum gewesen sein, das – auf Wunsch der Rothschild Mäzenatin – die Geschichte einer führenden jüdischen Familie und ihres Unternehmens dokumentierte.

Als im Januar 1933 das Museum der Jüdischen Gemeinde Berlin eröffnet wurde, überwog auch hier quantitativ die Zeremonialkunst . Doch gleichzeitig zeigte das Museum in großem Umfang „jüdische Kunst“, bestehend aus Porträts und Büsten jüdischer Persönlichkeiten und Gemälden jüdischer Maler zu biblischen Themen. Es gab Büsten von Moses Mendelssohn und Abraham Geiger, von James Simon und Paul Nathan, Porträts von Ludwig Börne und Leo Baeck und Selbstporträts von Lesser Ury und Max Liebermann. Hier verband sich der Stolz auf wissenschaftlich, wirtschaftlich und künstlerisch erfolgreiche Juden mit ihrer selbstbewussten Erhebung zum musealen Kunstwerk. Es handelte sich hier weniger um Biographik als um Ikonen der Akkulturation. Der Zusammenhang mit den Zielen der zeitgenössischen biographischen jüdischen Geschichtsschreibung war unverkennbar.

Außerhalb der von Juden unterhaltenen Museen gab es vor 1933 in mehreren kulturhistorischen Museen Deutschlands jüdische Abteilungen. – so z B. in Köln, Altona und Braunschweig. Doch hier blieb die Darstellung der Juden bezeichnenderweise ganz auf die Religion beschränkt, so daß fast ausschließlich Ritualobjekte ausgestellt wurden. Im Kontext dieser Museen wirkten sie sicherlich eher fremd oder gar exotisch. Nur einige wenige Ölgemälde bedeutender Juden sind in diesen Museen nachweisbar. Eine Darstellung der jüdischen Geschichte lag damals weder in der Absicht der kulturhistorischen noch der jüdischen Museen.

Nach den zwölf Jahren des Nationalsozialismus waren die jüdischen Museen zerstört und die meisten Ausstellungsstücke verschwunden oder vernichtet. Einzelne nichtjüdische Museen hatten ihre Judaica magaziniert, wodurch sie zumeist erhalten blieben.

In den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit begann wie die historische auch die museale Auseinandersetzung mit jüdischer Geschichte und Kultur nur sehr langsam. Das erste große Ereignis in diesem Bereich war – nach der „Synagoga“ in Recklinghausen – 1963 die Kölner Ausstellung „Monumenta Judaica – 2000 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein“. Ich habe diese Ausstellung damals gesehen und war tief beeindruckt von der Fülle und Schönheit der Judaica. Dergleichen war weder in der Bundesrepublik noch im Deutschen Reich jemals zuvor gezeigt worden. Wenn ich mir aber heute, vierzig Jahre später, den Katalog ansehe, so merke ich, wie sehr sich die Vorstellung von jüdischer Geschichte und Kultur und ihrer Präsentation gewandelt hat. Besonders befremdet mich heute die Tatsache, daß die fünfteilige Ausstellung mit der Sektion „Nachwirkungen des Alten Bundes in christlicher Kunst“ begann. Es handelte sich dabei um die bekannten christlichen Herabsetzungen des Judentums, um nicht zu sagen christliche Antisemitica. Offensichtlich war dies den Ausstellungsmachern, oft Theologen, nicht einmal bewusst, da ihr Zugang zum Judentum der traditionell christliche war. Von den restlichen vier Abteilungen waren zwei der jüdischen Zeremonialkunst und der jüdischen religiösen Literatur gewidmet. Wirklich neu im Ansatz aber waren die beiden mittleren Teile der Ausstellung, weil sie erstmals in Deutschland unter dem Titel „Dokumentation der politischen, rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Geschichte der Juden im Rheinland“ jüdische Geschichte und säkulares jüdisches Leben thematisierten. In dieser Sektion wurde sogar die nationalsozialistische Verfolgung nicht ausgeklammert , sondern dokumentiert – allerdings vor allem mit Zeugnissen der Täter. Auf die historische Sektion folgte der Teil „Vom jüdischen Beitrag zu Kunst, Literatur und Wissenschaft“. In dieser kulturhistorischen Abteilung befanden sich die meisten Biographica und zahlreiche Werke der behandelten Künstler und Wissenschaftler. Die Sektion repräsentierte die jüdische kulturelle Elite in dem für viele Jahrzehnte typisch werdenden Bemühen, Juden nach der rassistischen Verfolgung quasi kompensativ wieder aufzuwerten. So fragwürdig manches an dieser Ausstellung war, so sehr bedeutete sie doch einen Wendepunkt im öffentlichen Bewusstsein, weil sie erstmals jüdische Geschichte einschließlich des Holocaust thematisierte und die Biographien zahlreicher bedeutender Juden präsentierte.

In den achtziger und neunziger Jahren kam es dann zur Gründung neuer jüdischer Museen in Deutschland, die durchweg von nichtjüdischen Trägern betrieben und finanziert wurden. Kleine jüdische Museen, in ehemaligen Synagogen eingerichtet, widmeten sich meist der lokalen jüdischen Geschichte, was auch für das größere Jüdische Museum in Frankfurt gilt. Allein das 2001 in Berlin eröffnete Jüdische Museum, heute vom Bund getragen, beschäftigt sich generell mit dem ganzen deutschen Judentum. Es basierte auf einer bescheidenen Judaica-Sammlung der ehemaligen jüdischen Abteilung des Berlin Museums, war also wie fast alle jüdischen Museen nach der Vernichtung und Zerstreuung jüdischen Kulturguts auf Neuerwerbungen angewiesen. Durch diesen Wettbewerb war die Nachfrage vor allem nach historischer Zeremonialkunst inzwischen so stark, daß auf dem internationalen Kunstmarkt die Preise enorm stiegen und auch Fälschungen auftauchten. Ritualobjekte konnten also schon deshalb in den neuen Museen nicht mehr dominieren. Der Schwerpunkt des Interesses verlagerter sich auf die jüdische Geschichte und besonders auf die Zeit der nationalsozialistischen Verfolgung, die jetzt stärker aus der Perspektive der Betroffenen dargestellt wurde. Lebenszeugnisse aus der Zeit nach 1933 nahmen einen breiten Raum ein.

Das Jüdische Museum Berlin versuchte erfolgreich, emigrierte jüdische Familien zu Stiftungen von historischen Objekten aus Familienbesitz anzuregen. Dadurch entstand eine einmalige Sammlung von biographischen Exponaten zum Alltagsleben deutscher Juden. Diese Neuerwerbungen konnten die vorhandenen Exponate zur Geschichte der jüdischen kulturellen Elite vielfach ergänzen. Die große Zahl der Biographica ermöglichte zusammengenommen die Darstellung der jüdischen Lebenswelt seit der Frühen Neuzeit in sozialgeschichtlicher Orientierung. Allerdings kann eine solche Fülle biographischer Exponate und lebensgeschichtlicher Zugänge auch verwirrend und erdrückend wirken. Nicht zufällig ist das Jüdische Museum in Berlin immer noch dabei, die Zahl der Exponate zu reduzieren und Grundlinien der Dauerausstellung stärker herauszuarbeiten. An manchen Stellen war dies schon in der ersten Fassung gut verwirklicht, beispielsweise in der Abteilung Frühe Neuzeit, wo die Anzahl der Ausstellungsobjekte geringer ist, und etwa die Sektion über die Hamburger Kauffrau Glikl deren Lebensgeschichte hervorragend nutzt als eine Art roten Faden durch die Frauengeschichte der Frühen Neuzeit. Weniger ist einfach manchmal mehr – und besonders im Museum.
Damit sind wir bei der heute zu eröffnenden neuen Abteilung der Dauerausstellung angekommen. Ich muss gestehen: als ich 1992 der Eröffnung des Jüdischen Museums Westfalen beiwohnte, war ich etwas enttäuscht. Mit Westfalen hatte das Museum fast gar nichts zu tun, und das fand ich als Historikerin doch sehr verblüffend. Ich hatte etwas ganz anderes erwartet – eher das, was wir heute hier vor uns sehen. Um so mehr freue ich mich, daß meine Erwartungen jetzt nach zwölf Jahren erfüllt werden! Diese Freude war auch die Ursache dafür, daß ich es gern übernommen habe, heute hier zu sprechen.

Doch gibt es auch noch einen zweiten Grund, warum ich mich dieser neuen Abteilung nahe fühle. Ich habe ihn selber erst bemerkt, als ich mich mit dem Drehbuch beschäftigte. Es klang mir vieles vertraut, als ich die Vorüberlegungen von Marc von Miquel zur lebensgeschichtlichen Konzeption der neuen Abteilung las. Er schreibt :“Bei der Auswahl der 14 Biographien waren Fragen der Repräsentativität zu beachten – beispielsweise das Verhältnis von Frauen und Männern, die Bedeutung von geschlechterspezifischen Fragestellungen, die jeweiligen Regionen Westfalens und die Auswahl der Sozial- und Berufsgruppen“. Genau diese Probleme der Repräsentativität hatte ich auch gehabt bei der Auswahl der autobiographischen Texte, der Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte, die ich aus der Memoirensammlung des Leo Baeck Instituts edierte. Wer auswählt, bewertet, verwirklicht seine Idee davon, was repräsentativ ist, geht also vom eigenen Geschichtsbild aus. Auch ich habe versucht, Männer und Frauen, Landjuden, Stadtbürger und Ostjuden zu berücksichtigen ebenso wie unterschiedliche deutsche Regionen, verschiedene Bildungsgrade, Armut und Reichtum und unterschiedliche religiöse und politische Orientierungen. Das ist wirklich nicht einfach. Ich weiß daher, wovon ich spreche, wenn ich sage, daß diese Repräsentativität mir in der neuen Abteilung wirklich hervorragend gelungen scheint.

Bei der Gestaltung eines Museums gibt es im Vergleich zur Textedition jedoch noch zusätzliche Probleme – vor allem die Frage: Kann ich diese Lebensgeschichte auch visuell vermitteln, gibt es genug Ausstellungsstücke dazu oder kann ich zumindest eine Inszenierung aus historischen Objekten zaubern, beispielsweise wie hier mit einer alten Hökerkiepe oder einer Schusternähmaschine ? Nur wenn diese Frage positiv beantwortet wird, kann die repräsentative Lebensgeschichte im Museum Erfolg haben. Auch um diese Visualisierung haben sich die Ausstellungsmacher hier im Haus vorbildlich und erfolgreich bemüht. Sie arbeiten mit sparsamen Mitteln auf begrenztem Raum, aber gerade das wenige ist, intelligent gewählt, oft überzeugender als eine ermüdende Überfülle. Die Biographie und ihre Bezüge zur Umwelt werden hier geschickt genutzt, um interessante Exponate in den lebensgeschichtlichen Kontext einzubeziehen – etwa den Münzfund von Münster, die Ostjuden in Dortmund oder die Sammlung von Sportfotos des Hakoa Bochum. Die Lebensgeschichte ist, methodisch gesehen, ein roter Faden, der all das verbindet. Gerade die Kontakte zu Emigranten als privaten Leihgebern, wie sie auch hier gepflegt wurden, führen oft zu den wichtigsten lebensgeschichtlichen Exponaten.
Neben Repräsentativität und Visualisierung gibt es eine dritte wesentliche Vorüberlegung bei Vorbereitung einer Ausstellung – die didaktische : Für wen erarbeite ich diese Ausstellung, wie will ich die Betrachter ansprechen und was erwarte ich idealiter als Wirkung ? Auch hier zeigt sich, daß das biographische Konzept eine natürliche Erfolgschance hat, weil nichts so sehr interessiert wie das Individuum und sein Leben. Nach meiner Kenntnis gibt es kein Museum für jüdische Geschichte und Kultur, das den biographischen Zugang so ausschließlich und konsequent anwendet wie diese neue Abteilung hier in Dorsten. Das reflektiert ein hohes Maß an didaktischer Erfahrung – die zwölf Jahre Wartezeit waren also nicht umsonst. Die Ausstellung erhält durch ihr spezifisches Konzept eine klare und strenge Gliederung, die aber durch die Vielfalt der lebensgeschichtlichen Aspekte und Exponate niemals schematisch wirkt. Die Präsentation der persönlichen Lebensgeschichten auf dem Hintergrund ihrer Zeit ermöglicht dem Besucher eine Identifikation mit den Dargestellten und damit eine Auseinandersetzung mit ihren Problemen. Ich halte Einfühlung und Identifikation in diesem Zusammenhang durchaus für positiv. Unsere heutigen Schulgeschichtsbücher stellen die jüdische Geschichte noch immer überwiegend aus der Perspektive des Antisemitismus und der Judenverfolgung dar – das heißt, Juden sind primär als Opfer konzipiert. Dieser Fehler ist hier vermieden worden, ohne daß deshalb die furchtbaren Ereignisse unter dem Nationalsozialismus verharmlost werden. Im Gegenteil : Die biografische Darstellung der Erfahrung von Verfolgung macht diese für Schüler, aber auch für Erwachsene bis zu einem gewissen Grade zugänglich durch Empathie.

Die Biographie, wie unterschiedlich auch immer sie konzipiert wurde, hat im Lauf ihrer eigenen Geschichte immer die Individualität des Menschen und gleichzeitig seine Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Gesellschaft reflektiert. Dies ist Ihnen auch in dieser Ausstellung zur Geschichte der Juden in Westfalen hervorragend gelungen.

Prof. Monika Richarz, Jg 1937, war von 1984 – 1993 Leiterin der Gemania Judaica, der Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Judentums; von 1993 bis 2001 leitete sie das Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg. Zu ihren Werken gehört u.a. die dreibändige Dokumentation „Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte

Jüdisches Leben in Europa.
Bericht über eine Tagung zum historischen Lernen mit Internet und Medien im Jüdischen Museum Westfalen (Dorsten) am 14. September 2005 – der Bericht informiert nicht nur über die Tagung, sondern auch über grundsätzliche Probleme historischen Lernens zur deutsch-jüdischen Geschichte.

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Jüdisches Leben in Europa
Eine Tagung zum historischen Lernen mit Internet und Medien im Jüdischen Museum Westfalen (Dorsten) am 14. September 2005

Die Fertigstellung eines neuen Internetportals über jüdisches Leben in drei europäischen Regionen war der Anlass, zu dieser Tagung einzuladen, um die Chancen historischen Lernens mit den inzwischen nicht mehr so gänzlich neuen „neuen Medien“ auszuloten. 40 MultiplikatorInnen aus Museen, Schulen, Gedenkstätten und Erwachsenenbildung beteiligten sich an dieser Erkundung. Der Tagungsort – das Jüdische Museum Westfalen – versteht sich auch als lebendige Bildungs- und Kultureinrichtung; das Westfälische Landesmedienzentrum als Mitveranstalter unterstützt die außerschulische und schulische Bildungsarbeit seit langem mit Fortbildungsprogrammen und der Produktion und Bereitstellung von Filmen, DVDs etc.(1)

Zu den Ambitionen der Veranstaltung (und des Internetprojekts) gehörte es, einen Beitrag zu leisten zu vielfältigeren Bildern des europäischen Judentums und zu komplexeren Lernprozessen – einer „Enttypisierung“ insofern also, als schulisches Lernen und gesellschaftliche Diskurse weithin vom Stereotyp der Juden als Opfer kontinuierlicher Verfolgung gekennzeichnet sind. Dem stellen die Autorinnen und Autoren der Website eine Sicht- und Darstellungsweise entgegen, die an individuellen und z.T. subjektiven „Geschichten“ ansetzt: an Biografien, „unerhörten Begebenheiten“, den Geschichten von Gebäuden, Straßen und Institutionen. Juden werden durch diese Sichtweise als Handelnde präsentiert, die Geschichte und Kultur Europas in hohem Maße mitgeprägt haben. Die Vielfalt dessen, was jüdische Geschichte, jüdisches Leben und Kultur in Europa früher bedeutete und heute ausmacht, wird so vermittelt, ein erster Blick auf die unterschiedlichen Narrative wird möglich. Die multimediale Website ist in allen Bereichen dreisprachig, Schüler, Lehrer und allgemein historisch Interessierte in Deutschland, Polen und den Niederlanden können sich in ihrer jeweiligen Muttersprache informieren. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Darstellung jüdischen Lebens jenseits der Metropolen, in den drei europäischen Regionen Westfalen, Groningen und Lublin.(2)

Das Internetportal „Jüdisches Leben in Europa jenseits der Metropolen“ wurde unter der Leitung des Westfälischen Landesmedienzentrums in Münster in Zusammenarbeit von drei Bildungs- und Erinnerungsorten realisiert: Das Jüdische Museum Westfalen (JMW) in Dorsten, das Zentrum „Brama Grodzka – Teatr NN“ im polnischen Lublin und die Stiftung „Folkingestraat Synagoge“ in Groningen in Kooperation mit dem Regionalhistorischen Centrum der Groninger Archive erarbeiteten ein Jahr lang die Inhalte der Website. Gefördert wurde das Projekt von der Europäischen Union im Rahmen des Programms „Kultur 2000“.

Das Eingangsreferat von Prof. Susanne Popp (Universität Siegen) zeigte noch einmal die Ausgangslage auf: Von welchen Bildern und welchen Schulbuchmaterialien werden Lehr- und Lernbemühungen über jüdische Geschichte dominiert? Nur wenige Stichworte zu ihrem ernüchternden Befund: Die Bücher haben durchschnittlich 7 Seiten für die Themen Nationalsozialismus und Shoa übrig, begriffliche Genauigkeit hinsichtlich komplizierter deutsch-jüdischer Identitäten fehlt in der Regel, ein jüdisches Leben nach 1945 findet nicht statt… Zwar finden sich Ausläufer eines „iconic turn“ auch in den Schulbüchern, doch – so die Expertin – eher als schlichte Vermehrung der Bildquellen angesichts grassierender Leseverweigerung, nicht aber als Anleitung für einen quellenkritischen Umgang mit den gängigen Fotografien. Sie akzentuierte ihr Urteil am Beispiel der in Nordrhein-Westfalen zugelassenen Hauptschul-Geschichtsbücher, unterstrich aber, dass auch die Lehrwerke anderer Schulformen immer noch vergleichbare Mängel aufweisen. „Immer noch“ insofern, als viele Jahre nach den Empfehlungen der deutsch-israelischen Schulbuchkommission und den späteren vergleichbaren Empfehlungen des Leo-Baeck-Instituts (3) eigentlich alle Defizitbeschreibungen und Vorschläge zu ihrer Abhilfe ausreichend bekannt sein könnten. Die Verantwortung für solche offenkundigen Mängel werde in der Regel zwischen den Akteuren – Autoren, Redaktionen, Verlag und Ministerien – hin und hergeschoben, was Popp zu dem Vorschlag motivierte, öffentliche Foren für eine Schulbuchkritik zu schaffen, die nicht wirkungslos verpufft.

Neben der Präsentation der Website und ihrer Strukturen durch einige ihrer MacherInnen trat ein Testbericht derer, die als „Endabnehmer“ gedacht waren. Dorstener Schülerinnen, die im vergangenen Schuljahr selbst eine Internetseite über „Jüdische Lebenswege in Westfalen“ (4) erarbeitet hatten, berichteten über ihre Eindrücke hinsichtlich der Verständlichkeit und Motivationskraft des EU-Projekt-Portals. Sie bescheinigten dem Projekt in beiden Dimensionen eine hohe Qualität, betonten aber nicht ohne Selbstbewusstsein auch die Stärken ihrer eigenen Präsentation, die z.B. auch die Reflexion und Darstellung ihrer Annäherungsprozesse an das Thema „Jüdisches Leben“ enthält.

Zu Beginn des zweiten Teils der Veranstaltung gab Robert Gücker, Referent für Medienbildung im Westfälischen Landesmedienzentrum, eine kurze Einführung in das Begriffsfeld zum „Geschichtslernen im Internet“ und erinnerte an einige unbeantworte grundsätzliche Fragen: Wie kann Lernen mit Medien genau erfasst und beschrieben werden? Sind Medien eine Unterstützung autonomer LernerInnen (oder ein Vorwand, diese allein zu lassen)? Wie kann eine aktive Medienarbeit an Vorwissen und subjektive Orientierungen anschließen? Svenja Büsching, Doktorandin an der Universität Münster und selber Lehrerin, ging in ihrer Präsentation der Frage nach, ob Internetportale im Geschichtsunterricht „neue PC-orientierte Lernwege oder [eine] multimediale Sackgasse“ darstellen. Sie stellte ebenso unterschiedliche Internetportale zum Geschichtslernen selbst vor wie die Möglichkeiten, diese im Unterricht einzusetzen: Surfboards, Lagepläne und didaktische Szenarien nannte sie hier in ihrem konstruktiven Vortrag. Die im Vortragstitel gestellte Frage beantwortete sie zwiespältig: Zwar eröffne das Internet vielfältige Möglichkeiten für einen innovativen Geschichtsunterricht, doch erfordere der Einsatz der Webportale ein ausgeprägtes technisches Know-How, genaueste Auswahl und eine intensive Vorbereitung des Unterrichts.

Zwei weitere Workshops widmeten sich ebenso den Praxisproblemen des historischen Lernens mit Medien – einer mit dem Schwerpunkt auf den didaktischen Möglichkeiten des neuen Portals „Jüdisches Leben in Europa“, ein anderer ging allgemeiner der Frage nach dem Einsatz „neuer Medien“ in der Bildungsarbeit nach.

Mitarbeiter des Jüdischen Museums und der Geschichtslehrer Kurt Langer (Marl) präsentierten und diskutierten die mit dem Portal sich ergebenden neuen Chancen des Lernorts Jüdisches Museum Westfalen: Die Dauerausstellung des Museums „Jüdische Lebenswege in Westfalen“ (5) weist nämlich viele Berührungspunkte mit dem neuen Portal auf. Arbeitsteilige individuelle Vorbereitungen eröffnen z.B. vertiefte Chancen des „peer guiding“, also der Erschließung und wechselseitigen Präsentation von Ausstellungsteilen durch Mitglieder der besuchenden Schülergruppen (6). In der Nachbereitung von Museumsbesuchen können die im Museum ausschnittsweise dargestellten Biografien in größerer Komplexität erschlossen werden. Thomas Ridder (JMW) unterstrich allerdings die These, dass den medialen Angeboten im Museum nur eine unterstützende Funktion zukomme, das Museum selbst aber weiterhin wesentlich mit der Überzeugungskraft seiner Originale arbeite. Wiewohl die schulischen Zwänge zunehmen und so die Aussicht auf anspruchsvolle und zeitintensive Lernarrangements mindern, wurden am Beispiel des „Perspektivischen Schreibens“ (7) auch weitere Szenarien für „Lerntage“ u.ä. erörtert, in denen das Portal und seine qualifizierten Links zur Quellensammlung für forschend-erkundendes Lernen werden können. Das Resümee der Gruppe: Die neue Website kann organisierte Einführungen in ihr Thema nicht ersetzen, sondern bietet motivierende Dokumente und Erzählungen zur Anreicherung von Lernprozessen.

Ob und wie sich griffige Anschaulichkeit sowie geschichtswissenschaftliche Fundierung von Inhalten im Multimedia-Bereich in Einklang bringen lassen, stellten Julia Volmer-Naumann und Stefan Querl aus dem Team des Geschichts-Lernorts Villa ten Hompel (Münster) an Hand von drei aktuellen Pilotprojekten aus Nordrhein-Westfalen zur Diskussion. Die mediale Aufbereitung von Ausstellungen und deren Chancen an einem außerschulischen Lernort wurden hier verdeutlicht. Auf reges Interesse stieß dabei eine technisch besonders animierte und historisch ambitionierte Anwendung aus der neuen Ausstellung „Wiedergutmachung als Auftrag“ am Geschichtsort der Stadt Münster, die Raub oder Enteignung jüdischen Besitzes unter dem NS-Regime, aber eben auch die (oft leider völlig unzureichenden) Rückerstattungsbemühungen in der Nachkriegszeit nachvollziehbar machen soll. Das ebenfalls vorgestellte (in Kürze ans Netz gehende) Projekt „www.lebensgeschichten.net“ der nordrhein-westfälischen Gedenkstätten wurde als besonders gelungenes Feature angesehen, in dem sich die Bereitstellung biografischer Quellen mit Anregungen zur Quellenkritik verbindet. Das Fazit dieser Arbeitsgruppe fiel ähnlich aus wie das des parallel tagenden ersten Workshops. Ergänzt durch inhaltliche Vorbereitungen und Einführungen kann es erreicht werden, „per Mouseclick zu mehr Quellenkritik?!“ – so der Vortragstitel – zu gelangen.

Die generellen Schlussfolgerungen der Veranstaltung können nur ambivalent sein: Der erschreckende Rückstand schulischer Medien (und vermutlich auch von Teilen des Unterrichts) gegenüber dem fachlichen Diskussionsstand zur Vermittlung jüdischer Geschichte könnte entmutigen; andererseits ist ebenso deutlich geworden, welche ermutigenden Ausnahmen (z.B. das von den Dorstener Schülerinnen selbst erarbeitete Portal) es landauf, landab gibt und wie die heutige Generation der Medien „subversive“ Möglichkeiten eröffnet, neben dem Leitmedium des Schulbuchs und den Rastern der ministeriellen Lehrpläne neue Fragestellungen und Arbeitsweisen zu forcieren – und das vergleichsweise kostengünstig. Zu achten wäre also zukünftig – so unser subjektiver Schluss – nicht lediglich auf diese wichtigen Medien und Rahmenvorgaben, sondern mindestens ebenso auf die Erhaltung von Freiräumen für ein probierendes Lernen jenseits curricularer Laufställchen und für eine kreative Professionalität und Weiterentwicklung der Lehrenden.

Dr. Andrea Löw
(Landesmedienzentrum des LWL/Arbeitsstelle Holocaustliteratur an der Justus-Liebig-Universität Gießen)

Dr. Norbert Reichling
(Jüdisches Museum Westfalen/Bildungswerk der Humanistischen Union)

Pädagogische Empfehlungen der Leo Baeck-Institute
Zur schulischen Beschäftigung mit der jüdischen Geschichte in Deutschland haben Expertinnen und Experten eine Handreichung erarbeitet, die Schwächen des bisherigen Umgangs aufzeigt und detaillierte Empfehlungen zu den wichtigsten Themenbereichen formuliert. Diese „Orientierungshilfe“ gibt nicht nur Hinweise für Lehrpläne und Schulbücher, sondern kann auch einzelne Lehrer/innen auf wichtige Aspekte und Materialien aufmerksam machen. Das Papier kann HIER heruntergeladen werden.

Deutsch-israelische Schulbuchempfehlungen
Die Deutsch-Israelische Schulbuchkommission untersuchte zwischen 2011 und 2014 über 400 deutsche und israelische Schulbücher der Fächer Geschichte, Geographie und Sozialkunde im Hinblick auf die Darstellung des jeweils anderen Landes.

Zum Download geht es  HIER.

„Kinder in jüdischen Museen“
Hier ist der BERICHT über einen Workshop im Jüdischen Museum Westfalen (Dorsten) am 30. April 2007