Gedanken zu 30 Jahren Jüdisches Museum Westfalen von Dr. Mark Gutkin

Gedanken zu 30 Jahren Jüdisches Museum Westfalen

von Dr. Mark Gutkin, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen


Liebe Freunde!

Ich denke, unsere Gemeinde hat großes Glück gehabt. Glück, weil das Jüdische Museum Westfalen, das 2022 30 Jahre alt wird, und unsere jüdische Gemeinde sich im Kreis Recklinghausen befinden. Und ungeachtet dessen, dass das Museum den offiziellen Status „Jüdisches Museum Westfalen“ innehat, nennen wir es unser Museum, was der Definition nach zu freundschaftlichem nachbarschaftlichem Verhältnis und zur engen Zusammenarbeit verpflichtet. Deswegen möchte ich die Gelegenheit nutzen, zu überlegen, wie ich den Begriff der Zusammenarbeit verstehe, worin ich seine Aktualität und die gesellschaftlich-politische Bedeutung sehe.

Aktuell gibt es in Deutschland 32 jüdische Museen, zu denen das Jüdische Museum Westfalen in der Stadt Dorsten zählt. Eine beeindruckende Menge. Die Museen dokumentieren die Geschichte des Judentums in Deutschland, erzählen mit ihren Ausstellungsstücken von religiösem Leben und jüdischen Feiertagen, führen Aufklärungs- und Erziehungsarbeit durch, erfüllen verschiedene für die Gesellschaft wichtige und nützliche Funktionen.

Was ist denn dann das Problem? Wie es aussieht, besteht es darin, dass sich heutzutage in Deutschland, auch nicht ohne die „Hilfe“ der jüdischen Museen, ein Stereotyp der Wahrnehmung jüdischen Lebens gebildet hat. Der Sinn dieses Stereotyps besteht darin, dass für einen Großteil der Bevölkerung die Quelle der Informationen über jüdisches Leben Ausstellungsstücke in Museen, Archivmaterial und alte, wie durch ein Wunder erhalten gebliebene, Friedhöfe sind. Das jüdische Leben selbst assoziiert man vor allem mit Klezmer-Konzerten, Gedenkveranstaltungen, Ausstellungen zum Thema und mit politischen Aktionen, sowie Publikationen in der Presse und im Internet. Die Gründung, der Besuch oder die Unterstützung jüdischer Museen wird dem Kontakt mit real existierenden Juden gegenüber offensichtlich bevorzugt. Und für viele Deutsche ist ein Museum beinahe der einzige Weg, Juden, die jüdische Welt, das Judentum und die viele Jahrhunderte umfassende Geschichte des jüdischen Volkes kennenzulernen.

Was sind denn die Gründe für das Entstehen dieses Stereotyps, der zu einer Situation führte, die man kurz als „Über Juden ohne Juden“ zusammenfassen kann? Wahrscheinlich besteht einer der Hauptgründe darin, dass sowohl heute in den nach dem Zweiten Weltkrieg wiedergeborenen jüdischen Gemeinden als auch nach über 30 Jahren seit dem Beginn der jüdischen Emigration aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion in vielen jüdischen Gemeinden immer noch hauptsächlich russisch gesprochen wird. Ich bin mir sicher, dass es noch eine Vielzahl unterschiedlicher Gründe gibt, deren Analyse und Systematisierung ich nicht vertiefen möchte. Ich möchte auch nicht bei Beispielen stehenbleiben, welche die Schlussfolgerungen illustrieren, dass das reale Leben der jüdischen Gemeinden Deutschlands, in denen heute die moderne jüdische Geschichte „geschrieben“ wird und die ihre Traditionen bewahren, nicht sehr anziehend ist und am Rande der Aufmerksamkeit der Gesellschaft bleibt – und dass das jüdische Thema oft genug „ausgebeutet“ wird, um bestimmte politische Ziele zu erreichen.

Wie also kann man die Gesellschaft vom existierenden Stereotyp befreien und was muss man tun, damit zwei einander sehr selten kreuzenden Linien – das von der Gesellschaft wahrgenommene und das real existierende jüdische Leben – so viel mehr Berührungspunkte wie möglich finden? Ich bin nicht bereit fertige Rezepte zu präsentieren. Doch ich bin mir sicher, dass bei der Vielzahl der möglichen Herangehensweisen an die Lösung des Problems das Hauptergebnis die Bildung des Verständnisses in der Gesellschaft sein muss, dass das mehr als 1700 Jahre andauernde Leben der Juden in Deutschland keineswegs eine historische Vergangenheit und nicht ihr Phantom ist, dass wir kein Dokument aus dem Archiv sind und kein Ausstellungsstück im Museum. Wir sind die nach der blutigen Katastrophe wiedergeborene jüdische Gemeinschaft Deutschlands, die im „hier und jetzt“ real existiert.

Ich verstehe, dass das oben Dargelegte nicht ganz in die Tradition der Lobsprüche zu einem Jubiläum passt. Doch mich als Menschen, der seit vielen Jahren eine aktive Position in der jüdischen Gemeinschaft Deutschlands einnimmt, kann die entstandene Situation nicht gleichgültig lassen.

Es ist mir sehr wichtig, meine Meinung zu dieser Frage öffentlich auszusprechen und darauf aufmerksam zu machen. Auch ist es mir sehr wichtig, die besondere Rolle der jüdischen Museen zu unterstreichen, die sie bei der Änderung der Situation spielen können, denn ich bin mir sicher, dass ihre Gründer die Museen nicht als Modeerscheinung gegründet haben, sondern weil sie sich in der Verantwortung vor der Geschichte sehen. Und sie sind nicht nur dort offen, wo die einst erblühten Gemeinden vernichtet wurden, sondern auch dort, wo heute die wiedergeborenen jüdischen Gemeinden real existieren. Diese Rolle muss an erster Stelle darin bestehen, dass die Konzeption der Arbeit der jüdischen Museen neu ausgerichtet wird, insofern dass das heutige Leben der jüdischen Gemeinden darin viel stärker zur Geltung kommt. Und genau das setzt unser engeres Zusammenwirken und die Zusammenarbeit voraus.

Das Museum und unsere Gemeinde verbindet eine eigene langjährige gemeinsame Geschichte, das Verhältnis hatte verschiedene Phasen. Doch was auch immer gewesen ist, das Niveau der Zusammenarbeit bleibt meiner Meinung nach nicht hoch genug, um das existierende Stereotyp zu überwinden.

Von hier aus mein wichtigster Jubiläumswunsch an das Jüdische Museum Westfalen: Ein langes schöpferisches Leben in enger Zusammenarbeit mit der jüdischen Gesellschaft.

(November 2022)