Geschichte der Dinge –
NS-Kulturgutraub

von Sebastian Braun, Wissenschaftlicher Mitarbeiter


Seit Mitte Dezember 2020 wartet die Wanderausstellung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe zur Provenienzforschung in nordrhein-westfälischen Museen („Die Geschichte der Dinge“) im Jüdischen Museum Westfalen aufgrund von Corona vergeblich auf Besucher*innen. An dieser Stelle geben Mitarbeiter*innen des Jüdischen Museums in sechs Blogposts einen Einblick in verschiedene Aspekte dieses breiten Themas.

 

Der Geschichte 2. Teil: NS-Kulturgutraub

Dem idyllischen Motiv des unbetitelten Werkes haftet auf den ersten Blick etwas Unbekümmertes, ja Träumerisches an – Doch die Malerei eröffnet Betrachter*innen einen bedrückenden Überlieferungszusammenhang, der sich in der Wanderausstellung „Die Geschichte der Dinge“ erschließt: Es geht um die Geschichte des organisierten Raubes von Kulturgut durch das NS-Regime.

Das hier abgebildete Ölgemälde wurde wahrscheinlich 1941 im KZ-Dachau vom polnischen Maler Czeslaw Idzkiewicz (1889-1951) erstellt und ging im Jahr 2001 als Schenkung von Herbert Lau in die Gemäldesammlung des Kreismuseums Wewelsburg über. Es ist eines der zentralen Objekte in der Ausstellung, die das breite Spektrum des nationalsozialistisch verfolgungsbedingten Entzuges von Kunst und Kulturgut zwischen 1933 und 1945 widerspiegeln.

Doch das Gemälde sticht aufgrund seiner besonderen Überlieferungsgeschichte aus dem herkömmlich bekannten NS-Entzugskontext heraus und stellt einen anders gelagerten Fall dar.

Dank der kritischen Auseinandersetzung mit seiner eigenen Familiengeschichte, gelang es Herbert Lau mehr Licht in die Geschichte des Gemäldes bringen: Sein Vater, Hans Lau, war SS-Untersturmführer und von Ende 1939 bis September 1941 Führer der KZ-Wachmannschaft in Wewelsburg. Im selben Jahr wurde er in das KZ-Dachau versetzt, wo er als Zugführer und Kompanieführer tätig war. Es besteht die starke Annahme, dass Lau den damals im KZ-Dachau als „Schutzhäftling“ internierten Maler Czeslaw Idzkiewicz mit der Erstellung des Gemäldes beauftragte und das Kunstwerk anschließend in seinen Privatbesitz übernahm. Ob Lau sich angesichts dieses Entstehungs- und Erwerbshintergrundes wirklich als rechtmäßiger Eigentümer verstehen durfte, ist heute mehr als fragwürdig, handelt es sich doch um ein Kunstwerk, das vom Maler unter lebensbedrohlichen Bedingungen erschaffen wurde. Czeslaw Idzkiewicz überlebte KZ und Krieg und starb 1951 in Płock (Polen). Das Gemälde fand nie den Weg zurück zu ihm.

Die bedrückende Geschichte verdeutlicht vor allem den moralischen Blickwinkel, der der Erforschung von NS-Raub heute zukommt: Es handelt sich um die Geschichte von Verlust und Zerschlagung europaweiter Familien- und Kulturtradition, verbunden mit gegenwartsbezogenen Bemühungen um „faire und gerechte Lösungen“ für Nachfahren. Denn überall in den nationalsozialistisch besetzten Gebieten betrieben NS-Organisationen wie der „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ (ERR), das „Sonderkommando Künsberg“ und Polizeibataillone einen systematischen Raub von historisch einzigartigen Kulturgütern.

Den Raubzügen fielen hunderttausende Kunstwerke, die nicht dem „arischen“ Profil entsprachen zum Opfer. Sie wurden als „Entartete Kunst“ aus Museen und Galerien beschlagnahmt oder ihren jüdischen Besitzer*innen enteignet. Insbesondere Künstler*innen, die sich als Vertreter*innen zeitgenössischer und avantgardistischer Kunst verstanden (u. a. Kubismus, Futurismus, Dadaismus) sowie Kulturschaffende mit jüdischem Hintergrund wurden öffentlichkeitswirksam diffamiert. Sie erhielten Berufsverbot und ihre Werke wurden durch das Reichspropagandaministerium konfisziert. Im Juli 1937 wurden fast 600 Werke in der in München gezeigten Ausstellung „Entartete Kunst“ der diskriminierenden NS-Propaganda ausgesetzt. Darunter waren zahlreiche Werke von rheinischen und westfälischen Künstler*innen wie Otto Dix oder Otto Pankok aus der Künstlervereinigung Das Junges Rheinland. Der damals erschienene zeitgenössische Katalog „Entartete Kunst“ thematisiert in der Ausstellung diese dunkle Seite der NS-Propaganda.

Betroffen von Konfiszierungen waren viele rheinische und westfälische Museen, die zeitgenössische Kunst und Werke jüdischer Künstler*innen präsentierten, wie beispielsweise das Städtische Museum Bielefeld, das Städtische Kunst- und Gewerbemuseum Dortmund, das Vestische Museum Recklinghausen, das Folkwang Museum in Essen oder die Kunstsammlungen der Stadt Düsseldorf.

Seiner rassistisch-antisemitischen Ideologie folgend, „legalisierte“ das NS-Regime durch ein Bündel diskriminierender Gesetze Enteignungen im „Kleinen“ wie im „Großen“. Darunter fielen neben Beschlagnahmungen aus Museen auch Plünderungen von Schmuck, Möbeln und Antiquitäten aus Privathaushalten. Besitzer*innen wurden direkt enteignet oder sahen sich veranlasst ihre Wertgegenstände unter Druck zu veräußern. Dabei wurde im Rahmen der sogenannten „M-Aktion“ (Möbel-Aktion) verbliebenes Hausinventar von deportierten oder geflohenen Juden und Jüdinnen europaweit konfisziert.

Das Gesetz über die Einziehung volks- und staatsfeindlichen Vermögens (1933), die Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden (1938) oder die Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit (1938) dienten dafür als schein-legale Instrumente. Nicht selten bereicherten sich auch Polizeibataillone am Besitz von Deportierten – sie behielten sie als „Erinnerungsstücke“ an ihren Einsatz, wie die Geschichte eines Opernglases und eines Taschenamuletts, die Johann Ruf vom Münchener Polizeibataillon 72 aus dem Warschauer Ghetto in der Ausstellung aufzeigt.

Neben jüdischen Familien, bemächtigten sich NS-Organisationen auf diese Weise auch der Besitztümer weiterer Verfolgtengruppen, wie Sinti und Roma, Regimekritiker*innen, Homosexuellen, Freimaurer*innen, Zeug*innen Jehovas oder kirchlichen Orden. Besonders wertvolle Gegenstände wie Schmuck, antikes Mobiliar und Kunstwerke fanden nach der Beschlagnahmung den Weg in den Handel oder wechselten über Zwangsversteigerungen weit unter Wert ihre Besitzer*innen; Gebrauchsgegenstände wurden verkauft oder an „Bombengeschädigte“ weitervermietet.

Darüber hinaus wurde der Bücherraub von den Nationalsozialisten forciert. Schätzungsweise zwei Millionen Bücher raubten NS-Organisationen aus jüdischem Gemeinde- und Privatbesitz, aber auch aus den Beständen von Freimaurer-, Abtei- und Klosterbibliotheken in ganz Europa. Unter der Leitung des NS-Parteiideologen Alfred Rosenberg (1892-1946) raubte der ERR für das sogenannte „Institut zur Erforschung der Judenfrage“ in Frankfurt am Main Judaica und Hebraica, um „Wissen“ für eine antisemitisch-überhöhte „Gegenerforschung“ zu zentralisieren. Einigen jüdischen Gemeinden gelang es, wertvolle Judaica und Bücher zu verstecken, so dass sie von Beschlagnahmungen verschont blieben, so im Keller der Amsterdamer Synagoge.

Als Sammlungs- und Lagerorte für geraubtes Kulturgut dienten viele Burgen, Schlösser, Museen und Bunker aber auch christliche und jüdische Einrichtungen, die durch nationalsozialistische Behörden wie der Gestapo durch Enteignung aufgehoben wurden. Nach dem Krieg gab es auf dem Gebiet des späteren Nordrhein-Westfalen mehr als 140 Bergungsorte in denen Kulturgüter aufgefunden. Einige richtete die britische Militärregierung als zentrale Sammelstellen für geplante Neuverteilungen und Rückerstattungen ein. Beispiele dafür sind das westfälische Wasserschloss Nordkirchen, wo von Sommer 1945 bis November 1947 Kulturgut aus Münster zusammengeführt wurde

(Januar 2021)