Geschichte der Dinge – Einführung

von Sebastian Braun, Wissenschaftlicher Mitarbeiter


Seit Mitte Dezember 2020 wartet die Wanderausstellung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe zur Provenienzforschung in nordrhein-westfälischen Museen („Die Geschichte der Dinge“) im Jüdischen Museum Westfalen aufgrund von Corona vergeblich auf Besucher*innen. An dieser Stelle geben Mitarbeiter*innen des Jüdischen Museums in sechs Blogposts einen Einblick in verschiedene Aspekte dieses breiten Themas.

Der Geschichte 1. Teil: Einführung

Zu den weitreichenden Aufgaben in der Museumswelt gehört die kritische Auseinandersetzung mit der Herkunft von Objekten aus musealen Sammlungen. Dieses Problembewusstsein wurde erstmals 1998 in den sogenannten „Washingtoner Prinzipien“ formuliert, einer internationalen Vereinbarung, die Maßgaben zur Suche und Identifizierung von Kulturgütern, die vor allem jüdischen Opfern des Nationalsozialismus abgepresst und entzogen wurden, definierte. Spätestens seit der öffentlichen Debatte um den „Kunstfund Gurlitt“ im Jahr 2012, rückte die Provenienz von musealen Kulturgut stärker in den Mittelpunkt von öffentlicher Aufmerksamkeit und Forschung. Seit Juni 2020 befasst sich auch das Jüdische Museum Westfalen im Rahmen eines vom Zentrum für Kulturgutverluste geförderten Provenienzforschungsprojektes mit den Erwerbshintergründen zu Judaika aus seiner Sammlung.

Die Wanderausstellung „Die Geschichte der Dinge“ präsentiert das Thema Provenienzforschung aus kulturgeschichtlicher Perspektive und weitet damit den Blick auf ein aktuelles Forschungsfeld der Museumskultur. Damit trägt sie einen entscheidenden Teil zur moralischen Selbstverpflichtung von Museen bei, die Entstehungskontexte ihrer Sammlungen kritisch zu hinterfragen und Transparenz im Umgang mit Kulturgut zu schaffen.

Nahezu 50 Objekte aus über 40 nordrhein-westfälischen Museen und Archiven beleuchten in zehn Ausstellungskapiteln verschiedene Entstehungs- und Erwerbungskontexte von Sammlungen. Die Ausstellung spannt ihren Bogen unter anderem über die Themenbereiche „NS-verfolgungsbedingter und kriegsbedingter Kulturgutentzug“, „Judaika“, „Entartete Kunst“ bis hin zum Umgang mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten. Im Weiteren thematisiert sie die Rolle von Sammlern und Mäzenen wie beispielsweise dem aus Münster stammenden jüdischen Galeristen Alfred Flechtheim (1878-1937) oder dem Kölner Kunstsammler Joseph Haubrich (1889-1961), der seine Sammlung expressionistischer Werke 1946 der Stadt Köln stiftete.

Das besonders vermittlungsorientierte Potenzial der Ausstellung liegt in ihrem starken Objektbezug, denn jedes Kapitel präsentiert mindestens ein Exponat und mehrere konkrete Fallbeispiele aus der Provenienzforschung. Dadurch gelingt es einerseits, den zeitgenössischen Entstehungshintergrund von Sammlungen zu erklären und andererseits die „Objektbiografien“ in Beziehung zu Akteur*innen und individuellen Lebenswegen zu setzen. In dieser Hinsicht bietet die Ausstellung auch eine eindrucksvolle Begegnung mit jüdischer Kultur und prägenden historischen Persönlichkeiten der nordrhein-westfälischen Kulturlandschaft.

Einen besonderen Stellenwert nehmen die drei umfangreichsten Themenschwerpunkte „Judaika“, „NS-verfolgungsbedingter Entzug von Kulturgut“ sowie der Umgang mit Kulturgütern aus kolonialen Kontexten ein. Damit greift die Ausstellung hochaktuelle Diskussionen um Restitution und Eigentümeransprüche auf und reflektiert neben dem oft fragwürdigen und belasteten Objekterwerb vor allem den gesellschaftlichen und moralischen Auftrag, den Provenienzforschung im Sinne fairer und gerechter Lösungen für die Nachfahren der ursprünglichen Besitzer*innen erfüllen soll.

Im Ausstellungsbereich „Judaika“ wird der von den Nationalsozialisten staatlich und systematisch organisierte Raub religiöser und kultureller jüdischer Gegenstände thematisiert. Auf Beutezügen des „Einsatzstabs Reichsleiter Rosenberg“ und der Wehrmacht wurden ab 1940 europaweit Millionen Judaika gestohlen und verstaatlicht, ebenso wie wertvolle Bücher aus jüdischem Besitz. Sie wurden vom NS-Regime zum Studium des sogenannten „Volksfeindes“ in so geplanten „Judenbibliotheken“ und zu „Forschungszwecken“ in riesigen Depots zentralisiert. Ein gelungener Restitutionsfall wird in der Ausstellung an einem Mohelbuch (Beschneidungsbuch) aus dem Jüdischen Museum Westfalen vermittelt, das in einem künftigen Blogpost vorgestellt wird. Daneben erzählt eine 180 cm große Menorah aus der rheinisch-jüdischen Landgemeinde Vettweiß (Kreis Düren) die bedrückende Geschichte der Synagogenschändungen während des Novemberpogroms 1938.

Der Ausstellungsbereich „Kolonialismus“ thematisiert eine kontrovers geführte gesellschaftliche Forschungsdebatte in ethnologischen Museen: Was bedeutet es, dass sich Objekte aus den ehemaligen Kolonialgebieten in Deutsch-Südwest Afrika und von indigenen Gemeinschaften heute in deutschen Sammlungen befinden? Wie kann und soll Deutschland sich bei (illegal) eingeführten (archäologischen) Funden „verhalten“? Wird eine bloße Rückgabe der Objekte der Sache gerecht oder ist nicht vielmehr ein Wissenstransfer die fairere Lösung? Der regionale Bezug gelingt dabei durch die Geschichte des westfälischen Kolonialbeamten Ernst Goormann (geb. 1883) aus Lünen, der während seiner Dienstzeit in Tansania eine umfangreiche Sammlung an Jagdtrophäen zusammentrug und dessen in Afrika erworbene Objekte gezeigt werden.

Beleuchtet werden neben den prominenten Forschungsfeldern auch unbekanntere Erwerbungskontexte, beispielsweise anhand von Objekten, die im Rahmen des Kunstraubs in der Sowjetischen Besatzungszone und im Kontext von Enteignungen durch das DDR-Unrechtsregime widerrechtlich in westfälische Sammlungen gelangten. So fanden nicht wenige Gegenstände aus dem aufgelösten Besitz von sogenannten „Republikflüchtlingen“ ihren Weg in westfälische Sammlungen. Ein Medientisch erlaubt Besucher*innen zudem, sich über die während Diktatur und Krieg hinweg aufbewahrten Sammlungen sowie nordrhein-westfälische Bergungsorte nach 1945 zu informieren.

Auf niederschwellige Weise vermittelt die Ausstellung ein anspruchsvolles Thema mit hohem Aktualitätsbezug und bietet viele Anknüpfungspunkte an lehrplanrelevante Themen wie „Erfahrungen mit Unrechtsregimen“, „Nationalsozialismus“ und „Kolonialismus“. Ausdrucksstarke Objekte ermöglichen es, sich aus kulturhistorischer Perspektive mit Provenienzforschung auseinander zu setzen. So spricht die Ausstellung sowohl Fachkreise wie auch das breite Publikum an.

 

Dies ist eine gekürzte Fassung eines Artikels aus der Museumszeitschrift „Schalom“. Die vollständige Version finden Sie hier.