Hachschara auf „Haus Berta“ in Schermbeck

Hachschara auf „Haus Berta“

von Harald Lordick, Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen


Am Rande der Hohen Mark, nahe Schermbeck und Dorsten, gab es in den 1930er Jahren ein jüdisches Ferienheim – das am Freudenberg gelegene „Haus Berta“. Das Heim war für die kurze Zeit seines Bestehens seit 1934 für die jüdische Gemeinschaft mit einigen Zukunftshoffnungen verknüpft und ein quirliger, lebendiger Ort mit Ausstrahlung über die Region hinaus. Haus Berta wurde wohl schon Ende 1935 von der ‚Gestapo‘ gewaltsam geschlossen und 1938 in den Novemberpogromen zerstört. Vor Ort erinnert heute nichts mehr daran: Vor Jahrzehnten ist das Areal unter einem Zubringer zur Autobahn A31 verschwunden.

Die Gründung von Haus Berta war eine Reaktion auf die antijüdische Diskriminierung und Ausgrenzung durch den NS. Jüdische Kinder und Jugendliche hatten schon bald keine Orte mehr (Sportplätze, Landschulheime, Jugendherbergen), an denen sie vor Antisemitismus geschützt waren, an denen sie sich entfalten und unbeschwert, organisiert in Jugendbünden und -gruppen oder auch individuell, ihren Freizeitaktivitäten nachgehen konnten. Bildung, Spiel, Sport, Wandern, Zelten, Treffpunkt, um „auf Fahrt zu gehen“ – all dies bot das in kürzester Zeit als jüdisches Freizeitheim eingerichtete Haus Berta, dessen weitläufiges Gelände und landschaftlich schöne Lage – „in einem lieblichen Tal“ und „von waldigen Hügeln umschlossen“ – ideale Bedingungen bot. Ehemalige Besucher:innen berichten von einer erfüllten Zeit in Haus Berta, von Sport und Spiel in der von Wald und Heide und einer Kiesgrube geprägten Landschaft – jüdische Jugendliche konnten hier im wahrsten Sinne des Wortes ‚aufatmen‘.

Dabei war der Tag im vom Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) getragenen Haus Berta geprägt von einiger Disziplin: Aufstehen um 6 Uhr morgens, Waldlauf, Fahnenappell mit „Tagesparole“. Ilse Strauss, die an einem Ferienlager teilnahm, notierte eine solche in ihr Tagebuch: „Ich will nicht eher von dem Fleck weichen, als bis ich das, was ich mir vorgenommen habe, in die Wirklichkeit umgesetzt habe.“ Nicht allen gefiel dieser ‚Drill‘ des RjF und der ihm nahestenden Jugendbünde – andererseits diente dies auch dem Selbstbewusstsein und der Ertüchtigung der jüdischen Kinder und Jugendlichen in einer vielfach feindlichen Umgebung.

Vor dem Hintergrund der rapide zunehmenden Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung durch den NS seit 1933 übernahm Haus Berta eine Fülle weiterer Funktionen, und wurde zu weit mehr als einem Erholungs- und Ferienheim. Es diente als Versammlungsort jüdischer Organisationen des Niederrheins und Westfalens. Kleineren Gemeinden im Umkreis, die jeweils zu wenig Mitglieder hatten, ermöglichte es den gemeinschaftlichen Gottesdienst. Eingeweiht am 29. August 1934, zählte man im Februar 1935 schon mehr als 5.000 Besuchstage in Haus Berta. Jüdische Erziehung und Bildung und religiöses Leben hatten hier ebenfalls ihren Ort. Damit ging man insbesondere auch auf die Situation der Jugendlichen aus kleineren jüdischen Gemeinden in der NS-Zeit ein, die oft gar kein jüdisches Milieu kannten, keinen Jugendverein oder jüdische Freunde hatten. Der Gründer, der Gelsenkirchener Leo Gompertz, legte Wert darauf, dass das Heim allen jüdischen Richtungen offenstand. Mit seiner konsequenten Einhaltung der jüdischen Speisegesetze (Kaschruth) und des Schabbat kam das Haus auch für jüdisch-orthodoxe Kreise in Frage.

Die für Haus Berta Verantwortlichen versuchten über all das hinaus auch eine berufliche Orientierung anzubieten, die sowohl zum Heim als auch zur konkreten Situation der Jugendlichen passte.

Das Landhalbjahr auf Haus Berta

Dazu wurde ein sogenanntes Landhalbjahr angeboten – Landhalbjahr ? So selbstverständlich das Wort klingt: Das Landhalbjahr war eine wohl zunächst eigens für Haus Bertha geschaffene Ausbildungsform. Mit dem Landhalbjahr wollte man eine praktische Berufsorientierung für eine ganze Reihe von Tätigkeiten bieten. Das Landhalbjahrs-Zeugnis von Heinz Goldschmitt aus Essen nennt als Bereiche, in denen er beschäftigt wurde: Garten-, Acker-, Ausschachtungs- und Planierungsarbeiten sowie Anstreicher-, Schreiner-, Elektrizitäts- und Installationsarbeiten. Unter dem Druck der NS-Repressionen war die Nachfrage nach solchen Ausbildungsangeboten rapide gestiegen, und die tatsächlichen Möglichkeiten blieben weit dahinter zurück. Jüdische Jugendliche fanden nach ihrer Schulzeit – die sie nicht selten zwangsweise vorzeitig beenden mussten – oft keinen Ausbildungsplatz. Entsprechend nahmen auch bei dem Verbandstreffen des nicht-zionistisch orientierten Bundes deutsch-jüdischer Jugend (BdjJ), das 1934 in Haus Berta stattfand, Fragen der Berufswahl und sogenannten ‚Berufsumschichtung‘ eine erhebliche Rolle ein, ebenso auf einer Landesverbandstagung des RjF in Haus Berta 1935. Der RjF hatte einige Erfahrung auf diesem Feld, hatte früher schon einen Reichsbund für jüdische Siedlung gegründet, und Güter wie Buckow oder Groß-Gaglow gegründet. Das in kürzester Zeit in Haus Berta eingerichtete „Landhalbjahr (Heimhilfe)“ war erkennbar von Pragmatismus geprägt. Die Jugendlichen konnten sich dadurch an dem Betrieb und insbesondere dem weiteren Ausbau von Haus Berta beteiligen und erlangten andererseits nachweisbare, praktische berufsvorbereitende Fertigkeiten, die für die Möglichkeit der Auswanderung oft entscheidende Bedeutung hatten. Keinesfalls Zufall also, dass das Zeugnis von Heinz Goldschmitt den Vermerk trägt: „Er beabsichtigt, später nach Palästina mit der Jugend-Alijah auszuwandern.“

         

 

Rudy Katz aus Essen machte ebenfalls beim Landhalbjahr 1935 mit. Auch er hatte keine Lehrstelle gefunden, nachdem er die Humboldt-Oberrealschule in Essen vorzeitig hatte verlassen müssen – weil er Jude war. Er erinnerte sich später, dass die meisten Teilnehmer:innen des Landhalbjahrs ca. 15 bis 20 Jahre alt waren und »aus allen Ecken Deutschlands« kamen. Es war eine weltanschaulich gemischte Gruppe, aber die meisten waren nach Rudy Katz vom BdjJ, gehörten also nichtzionistisch orientierten Jugendgruppen an. Vermutlich konnte man hier in Schermbeck bei der Gestaltung des Landhalbjahrs auch aus den Erfahrungen schöpfen, die eine Gruppe des BdjJ schon im Landwerk Neuendorf 1933/34 gewonnen hatte, einer großen jüdischen landwirtschaftlichen Ausbildungsstätte in Brandenburg bei Fürstenwalde (https://akjw.hypotheses.org/tag/landwerk-neuendorf).

Ein Blatt eines dem Haus Berta gewidmeten Fotoalbums (Leo Baeck Archiv New York, Leo Gompertz Collection) widmet sich dem Landhalbjahr. Es zeigt das Kuratorium des Landhalbjahrs, dessen Mitglieder Beziehungen zum Handwerk hatten und handwerkliche Tätigkeiten beurteilen konnten, zudem »Herrn Baehr«, der nach der Erinnerung von Rudy Katz unter anderem als Sportlehrer und Vorarbeiter in der Landwirtschaft fungierte und bei allen »sehr beliebt« war sowie Hans Abraham, der überhaupt das »Programm« in Haus Berta gestaltete. Abgebildet ist außerdem die Landhalbjahr-Gruppe und ihr Leiter, Heinz Kahn, meist »HaKa« genannt. Vermutlich fiel ihm als ältestem, der zudem schon Berufserfahrung hatte, die Rolle des Gruppenleiters zu.

Berichte im Schild, der Zeitschrift des RjF, geben einen Einblick in die Arbeiten, die die Jugendlichen in Haus Berta leisteten:

„Zwanzig Jungen und Mädel arbeiteten ein halbes Jahr im Heim, im Garten, auf dem Acker, im Wald, auf der Heide. Zwanzig Jungen und Mädel bauten am Erweiterungsbau mit, an einem Geräteschuppen, einem großen Vogelgehege, wurden zu Ausschachtungs-, Planierungs- und Kanalisationsarbeiten herangezogen, schufen unter Anleitung eines Schreiners 80 neue Spinde, bauten die Küche und den Waschraum aus, wurden mit Anstreicher-, Elektrotechniker-Arbeiten vertraut gemacht, rodeten in der Heide und im Wald, bauten Wege…“

Dass das oft wirkliche Schwerstarbeit war, geht aus einer Schilderung Heinz Kahns zum Bau eines neuen Schuppens hervor:

„Seit Tagen haben wir ausgeschachtet. Karre für Karre die Erde weggefahren. Nun ist es endlich soweit. Heute können wir die erste Wand unseres neuen Schuppens, die Hinterwand aufbauen. Dort liegt die aus wuchtigen Eisenbahnbohlen zurechtgezimmerte Wand. Mit Rollen und Hebeln bewegen wir Zug für Zug die schwere, zehn Meter lange Wand an ihren Platz. Auf der vorderen Seite ziehen Jungen an langen Stricken. Im Gleichtakt schiebt sich die Wand vorwärts. Und zock – und zock – und jetzt – Jetzt gilt es, die flach am Boden vorgeschobene Wand aufzurichten. Notorische Nörgler und Miesmacher erklären von vornherein, daß wir die Wand niemals hochbekämen. Na, wir werden’s ihnen schon zeigen! Alle Mann fassen an, und langsam stemmen wir die Wand hoch. Da … die Wand droht zu rutschen … na, das ging noch gut. Die Kameraden auf der anderen Seite haben die oben an der Wand befestigten Seile gepackt. Die Wand steht.“

Und die schwere Arbeit hatte sich gelohnt. Kaum fertiggestellt, diente der Raum an Pfingsten schon einer größeren Anzahl von »Bundeskameraden« des BdjJ zur Übernachtung, die sonst gar nicht in Haus Berta hätten aufgenommen werden können. (Die oben erwähnte Ilse Strauss aus Gladbach gehörte mit ihrer Jugendgruppe zu diesem »Pfingstlager«.)

Aber auch geistige Bildung als wesentlicher Bestandteil des Programms wurde vermittelt. Durchaus stolz war man auf die viele hundert Bände umfassende Bibliothek, darauf, dass es Radio gab und jüdische Zeitungen zur Verfügung standen. Wohl insbesondere der Auswanderungsvorbereitung diente ein Englischkurs für Anfänger und Fortgeschrittene. Und insbesondere auch auf jüdische Bildung und Erziehung wurde Wert gelegt: an den Abenden saß man zusammen, »um den Dingen des Judentums näherzukommen«, der Freitag-Abend (Erew Schabbat) wurde begangen und ebenso Gottesdienst Samstags morgens. Eindrücklich schildert Heinz Kahn, wie die Jugendlichen die mittlerweile verlassene Synagoge im nahegelegenen Ort Alt-Schermbeck erkundeten und dort das Sch’ma Jisroel beteten.

Für Rudy Katz war tatsächlich die Ausbildung in Haus Berta das ›Sprungbrett‹ für eine Lehrstelle im Essener Bekleidungshaus Blum – dessen Eigentümer Gustav Blum gehörte zu den Unterstützern von Haus Berta und wurde dort auf Rudy aufmerksam. Einige der teilnehmenden Jugendlichen meldeten sich auch wieder für das folgende, zweite Landhalbjahr an. Dies gilt vermutlich ebenfalls für Heinz Kahn, denn er blieb ganz in der Nähe, in Alt-Schermbeck, gemeldet. Auch Heinz-Georg Isakowitz plante, so steht es in seinem Zeugnis über das erste Landhalbjahr, eine weitere Teilnahme. Und obwohl ein solches noch gar nicht beworben worden war, gab es schon Anmeldungen für ein drittes Landhalbjahr. Und Haus Berta hatte konkrete, anspruchsvolle und auf Zukunft gerichtete Pläne:

»Für das Winter-Landhalbjahr sind folgende Arbeiten vorgesehen: Bau eines Geräteschuppens und einer Werkstatt; Umbau der bisherigen Werkstatt zu einem Schlafraum; Planierung eines Sportplatzes; Bau eines Schwimmbades; Erweiterung des Hausgartens; Rodungsarbeiten in Heide und Wald, Durchforstung, Wegebau u.a.m. Auf Grund der neuen Verhältnisse auf dem Gebiet der hauswirtschaftlichen Berufe ist ein hauswirtschaftlicher Lehrgang für Mädchen geplant, an dem aber auch Jungen teilnehmen können, die sich auf diesem Wege für den Beruf eines Hausmeisters usw. vorbereiten wollen.«

Vieles spricht jedoch dafür, dass dieses Winterhalbjahr nicht mehr realisiert werden konnte, weil NS-Behörden diese Aktivitäten zwangsweise unterdrückten und damit das wohl auf seine Art einzigartige Angebot von Haus Berta schon nach kurzer Zeit, gegen Ende 1935, zunichte machten.

Eine »richtige Hachschara«, so würdigte seinerzeit die Zeitschrift Israelit das umfassende Programm von Haus Berta, das unter fachkundiger Anleitung »jungen Menschen, die landwirtschaftlich, gärtnerisch oder handwerklich sich betätigen wollen«, die Möglichkeit dazu eröffnete. Diejenigen, die die Schoa durch ihre erzwungene Emigration überlebten, erinnern Haus Berta eindrücklich als einen Ort, der sie gestärkt, ihnen in feindlicher Umgebung Selbstvertrauen und Zusammenhalt vermittelt hatte. Mindestens zwei Teilnehmer:innen des Landhalbjahrs, Heinz Kahn und Ruth Rothschild, setzten ihre Hachschara im ›Umschichtungslager‹ Groß-Breesen (Brzeźno, bei Wrocław / Breslau) fort. Auch dort war »HaKa« wieder Leiter einer Gruppe, und mit anderen Groß-Breesenern baute er ab 1938 eine Farm in Burkeville (Virginia, USA) auf, die Hyde Park Farm. So halfen die grundlegenden Erfahrungen aus Haus Berta später auch anderen jüdischen Jugendlichen bei ihrer Hachschara (=Vorbereitung für die Auswanderung nach Palästina besonders in den 1920er und 1930er Jahren).

Danksagung

Der Verfasser dankt Pfarrer i.R. Wolfgang Bornebusch, dem Heimat- und Geschichtsverein Schermbeck und dem Jüdischen Museum Westfalen für die Unterstützung.

Abbildungen
  • Titelbild: Haus Berta 1934 (Courtesy of the Leo Baeck Institute, New York)
  • junge Gäste im Haus Berta beim Mittagessen (Courtesy of the Leo Baeck Institute, New York)
  • Jugendlich beim Ausschachten (Courtesy of the Leo Baeck Institute, New York)
  • Zeugnis und Foto von Heinz Goldschmitt (Alte Synagoge Essen, Archiv, Sammlung Henry Goldsmith)
  • Jahrgang des Sommer Landhalbjahres 1935 (Courtesy of the Leo Baeck Institute, New York)