Geschichten aus der Sammlung, Teil 3: Das Klavier der Familie Abrahamsohn

Das Klavier der Familie Abrahamsohn

von Thomas Ridder, Kurator


Arthur Abrahamsohn heiratete 1919 in Marl die aus Iserlohn stammende Else Gottschalk. Mit den Söhnen Hans (geb. 1922), Rolf (geb. 1925) und Norbert (geb. 1933) wohnte die Familie in der Loestraße 26. Im Untergeschoss befand sich das eigene Textilwarengeschäft „Kaufhaus Abrahamsohn“.

Nach den Erzählungen von Rolf Abrahamsohn war seine Mutter eine begeisterte Freizeitpianistin. Auf den Weihnachtsfeiern für die Angestellten des Geschäfts soll sie stets auch christliche Weihnachtslieder gespielt haben. Doch dann kam der 9. November 1938. SA-Männer drangen in das Geschäft und die Wohnräume ein, zerstörten vieles, verletzten Arthur Abrahamsohn schwer und zündeten das Ladenlokal an. Dabei nahm ein SA-Mann auch das Klavier mit.

Nach seiner Deportation 1942 durchlitt Rolf Abrahamsohn sieben Konzentrations- und Zwangsarbeitslager. Die Befreiung im Mai 1945 erlebte Rolf in Theresienstadt. Das der Familie geraubte Haus wurde ihm 1948 nach einem mühevollen Verfahren zurückerstattet. 1949 zog Rolf Abrahamsohn dort ein und eröffnete in den früheren Geschäftsräumen seines Vaters einen Laden für Bekleidung.

Eines Tages, Anfang der 1950er Jahre, kam eine Frau in den Laden und behauptete zu wissen, wo sich das 1938 entwendete Klavier befinden würde. Es stände noch immer bei der Familie jenes SA-Mannes, der das Klavier in der Pogromnacht entwendet hätte. Mit zwei Möbelpackern und einem Transporter machte sich Rolf auf den Weg nach Marl-Brassert. Ohne große Erklärungen und ohne Widerstand ließ er das Klavier verladen und zu sich in die Wohnung bringen. Dort stand es bis zum Transport nach Dorsten am 17. Oktober 2022. Der Sinneswandel der Hinweisgeberin war nicht etwa Reue, sondern ein Streit zwischen ihr und der Frau, in deren Wohnung sich das Klavier befunden hatte.

Auf dem Klavier wurde im Haus Abrahamsohn niemals wieder gespielt. Weder Rolf, noch seine Frau und der Sohn haben das Klavierspiel erlernt. Daher ist das Klavier heute nicht mehr spielbereit. Es müsste aufwendig restauriert werden, worauf vorerst verzichtet wird. Auch entsprechen das verschnörkelte Aussehen des Instruments und auch sein Klang nicht mehr dem aktuellen Zeitgeschmack.

Das Klavier stammt aus der Pianofortefabrik Carl Mand aus Koblenz. Es dürfte Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut worden sein. Es ist inzwischen Bestandteil unserer Sammlung und wird wegen seines konkreten Bezugs zur Familie Abrahamsohn und der interessanten Geschichte für die Nachwelt gesichert. Da das Klavier wegen seiner Größe in einem externen Depot eingelagert ist, kann es nicht dauerhaft im Museum besichtigt werden.

Rolf Abrahamsohn verstarb am 23. Dezember 2021. Sein Sohn hat das Klavier dem Jüdischen Museum Westfalen als Geschenk überlassen.

 

Titelbild: Das Klavier im Wohnzimmer der Familie Abrahamsohn

Bild im Text: Rolf Abrahamsohn ca. 1950