L’Chaim – Wie das Traueralbum
eines Verstorbenen zum Symbol kollektiver Erinnerung wird…

von Sebastian Braun, Wissenschaftlicher Mitarbeiter


L’Chaim – Wie das Traueralbum eines Verstorbenen zum Symbol kollektiver Erinnerung wird…

Eine aktuelle Anforderung an Museen besteht darin, sich mit der Herkunft ihrer Objekte – ihrer Provenienz – zu beschäftigen. Wer versucht die „Biografie“ eines musealen Gegenstandes zu rekonstruieren, legt bei Recherchen die außergewöhnlichsten Spuren frei. Oft sind detektivische Methoden notwendig, um zu Ergebnissen zu gelangen – nicht selten erhalten wir nach Abschluss der Nachforschungen mehr Ergebnisse und ganz andere Erkenntnisse als zu Beginn vermutet. Diese Arbeit mit den Objekten führt zu spannenden Begegnungen mit den Lebensgeschichten ihrer ursprünglichen Besitzer*innen und jüdischer Kultur.

Tod, Trauer und Begräbnis sind zentrale Bestandteile jüdischer Kultur, Bücher ausdrucksstarke Zeugnisse materieller Kultur. Setzt man beides in Beziehung zueinander, so können Resonanzräume entstehen. So im Falle eines sogenannten „Traueralbums“ aus unserer Sammlung, ausgestellt in Erinnerung an den jüdischen Berliner Julius Meyerhardt (1894-1932), dessen Leben und Herkunft wir im Rahmen der Provenienzforschung genauer nachspüren.

Das Album gelangte 1993 als Ankauf in unsere Sammlung. Es dokumentiert nicht nur Leben und Tod eines jüdischen Berliners, sondern seine Eintragungen erlauben auch facettenreiche Einblicke in die Geschichte der jüdischen Gemeinschaft in Berlin vor 1933 und darüber hinaus.

Viele Informationen waren über das Leben des Verstorbenen und die Umstände seines Todes nicht bekannt, sodass wir uns durch Archivrecherchen daran machten genaueres zu erfahren und durch Nachforschungen dabei Stück für Stück die Teile eines Mosaiks freilegten.

Im Schutzeinband des Albums findet sich der handschriftliche Vermerk „Kaplan, Levetzowstraße 2“. Dies legt die Vermutung nahe, dass das Album im Besitz einer jüdischen Familie namens „Kaplan“gewesen sein könnte. Ob der Eintrag vor oder nach dem Tod von Julius Meyerhardt vorgenommen wurden und eine verwandtschaftlicher Verbindung zum Verstorbenen stand, konnte bisher nicht ermittelt werden. In der Levetzowstraße 7-8 befand sich bis in die 1930er Jahre eine der größten Synagogen im damaligen Berlin, so dass Julius Meyerhardt wahrscheinlich Kontakte in die dortige Gemeinde unterhielt. Unter Umständen war auch eine Familie Kaplan Mitglied dieser Gemeinde. Später wurde die Synagoge in der Levetzowstraße durch die nationalsozialistischen Behörden entweiht, indem sie dort ein Sammellager einrichteten, wo sich jüdische Berliner*innen vor ihren Deportationen zu melden hatten. Es bestand von 18. Oktober 1941 bis zum 26. Oktober 1942 und kurzzeitig im Rahmen der „Fabrikaktion“ vom 2. März bis 12. März 1943, bei der die letzten verschonten jüdischen Berliner, die bis dahin in Rüstungsbetrieben zur Zwangsarbeit eingesetzt waren, sich zur Deportation sammeln mussten. Etwa 20.000 Menschen durchliefen dieses Sammellager in der ehemaligen Synagoge.

Über das „Jüdische Adressbuch für Groß-Berlin“ aus den Jahren 1929/1930 sowie 1931/1932 konnten wir ermitteln, dass Julius Meyerhardt zunächst unter der Anschrift Hasenheide 29 im Bezirk Kreuzberg gemeldet war und anschließend in die Milastraße 2 ins Gleimviertel zog.

Das Album dokumentiert sein Sterbe- und Beisetzungsdatum – den 2. März sowie 6. März 1932 – und es enthält eine sehr detailliert angelegte Jahrzeittafel, die sich bis ins Jahr 1982 erstreckt. In Gedenken an einen verstorbenen Menschen entzünden die Angehörigen am Jahrestag des Todes ein Jahrzeitlicht, das als Symbol für die aufsteigende Seele 24 Stunden brennt. Es ist demnach nicht unwahrscheinlich, dass Julius Meyerhardt Angehörige hinterließ, die seiner Seele in den folgenden Jahren gedachten.

Ein besonders auffälliger Eintrag steht im Zusammenhang mit der Beisetzungszeremonie für den Verstorbenen: Die Trauerrede für Julius Meyerhardt hielt der renommierte Berliner Rabbiner Dr. Joachim Prinz (1902-1988). Er wirkte von 1926 bis 1937 als Religionslehrer und Prediger in Berlin-Dahlem in der Synagoge Friedenstempel Halensee. Jene Synagoge wurde nach 1933 zum zentralen Anlaufpunkt für viele Berliner Jüdinnen und Juden, die von den Nationalsozialisten terrorisiert wurden. Joachim Prinz war seinerzeit jüngster Rabbiner in Berlin und glühender Zionist. In seinen Predigten nahm er kein Blatt vor den Mund und griff öffentlich das NS-Regime an, was mehrere Verhaftungen durch die Gestapo nach sich zog. Am 7. Juni 1938 wurde er ausgebürgert und emigrierte in die USA. Zeitgenossen berichten davon, dass Adolf Eichmann bei der Abschlusspredigt anwesend war, der in Zusammenarbeit mit der Gestapo Rabbiner Prinz überwachte.

In den USA wurde Rabbiner Prinz zu einem einflussreichen Vorreiter des liberalen Judentums und entwickelte sich zu einem Vorkämpfer gegen Rassismus, indem er sich in den 1960er Jahren mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung solidarisierte. So war er neben Martin Luther King Mitbegründer des historischen Marsches auf Washington am 28. August 1963 und sprach als Vorredner des prominenten Bürgerrechtlers. In seinem Pamphlet vertrat Rabbiner Prinz stets die Werte sozialer Gerechtigkeit und stand für den interreligiösen Dialog ein. Zunächst als Mitglied (ab 1946) und später als Präsident des World Jewish Congress (1958-1966) sowie als Direktor der Jewish Claims Conference (ab 1958) stieg er in einflussreiche Ämter auf.

So erlaubt das Album durch seine Gestaltung und seine Einträge, Rückschlüsse auf mehrere Lebenswege jüdischer Berliner und erweist sich als Teil des kulturellen Gedächtnisses. Als historisches Zeugnis lässt es die Einblicke in Geschichte(n) der jüdischen Berliner Gemeinschaft zu.

Weitere Recherchen

Noch sind wir nicht am Ende unserer Recherchen, laufende Archivanfragen stellen uns in Aussicht mehr über das Schicksal des Verstorbenen Julius Meyerhardt zu erfahren.

Wenngleich wir also Tod und Trauer gewöhnlich mit einer Verlusterfahrung in Beziehung setzen, erzählt das Album in diesem Fall viel mehr über das Leben als über den Tod und lässt die Tür für weitere Geschichten offen…

(Oktober 2020)