„Wo Bücher wohnen“

von Thomas Ridder, Kurator


„Wo Bücher wohnen“
Die Bibliothek des Jüdischen Museum Westfalen

Das Jüdische Museum Westfalen sollte im Sinne seiner Gründer mehr sein als nur ein Museum. Es sollte ein Ort des Lernens sein. Deshalb hatten die Gründer*innen auch eine Bibliothek vorgesehen, die für alle Interessierten zugänglich sein sollte. Mit der Eröffnung des Museums im Juni 1992 wurde daher auch eine kleine Bibliothek vorgestellt. Sie war als Präsenzbibliothek eingerichtet, es gab von Anfang an einen elektronischen Katalog. Auf Karteikarten hatten wir verzichtet. Der Buchbestand umfasste zur Eröffnung etwa 2.000 katalogisierte Bücher, die in der Gründungsphase dem Trägerverein gespendet worden waren. Weitere 2.000 bereits vorhandene Bücher wurden in den nächsten Jahren erfasst. Heute haben wir über 7.000 Bücher. Die Katalogisierung und die Abfrage des Bestands erfolgt mit dem Bibliotheksprogramm Allegro-C. Dieses Programm benutzen wir noch heute, planen aber eine zeitnahe Ablösung durch eine andere netzwerkfähige Software.

Was findet man hier?
Der Buchbestand ist bis heute vor allem durch Schenkungen gewachsen. Der Vorteil dieser Bestandserweiterung ist, dass wir nicht nur Bücher aus der Zeit ab 1990 haben, sondern auch viele ältere Bücher bis zurück in die 1960er-Jahre. Darunter sind zahlreiche grundlegende Arbeiten und Standardwerke der 1960er- bis 1980er-Jahre, die nur mit Glück antiquarisch hätten gekauft werden können. Dazu zählt als ein Beispiel die dreibändige Dokumentation „Jüdisches Leben in Deutschland – Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1780–1945“ von Monika Richarz. Auch die Arbeiten von Joseph Wulf und anderer wichtigen Historiker*innen kamen so in unseren Bestand. Neuerscheinungen konnten leider nicht umfassend erworben werden, sondern nur ausgewählt. Leider reichen die dem Haus zur Verfügung stehenden Gelder bisher nicht aus, um ein nennenswertes Budget für Anschaffungen zur Verfügung zu haben.

Dennoch gelang es uns, zu einigen Themen einen recht umfangreichen Literaturbestand aufzubauen. Dazu gehört die NS-Zeit. Mehrere Hundert Bücher, Gesamt- und Einzeldarstellungen, beschreiben die NS-Geschichte und die Schoa sowohl im Deutschen Reich als auch in den besetzten Gebieten. Durch die Trennung in zwei Signaturengruppen kann am Regal eine Auswahl getroffen werden. So wichtig die Behandlung der NS-Zeit auch ist, ein jüdisches Museum befasst sich im Schwerpunkt mit der deutsch-jüdischen Geschichte bzw. in unserem Fall mit der Regionalgeschichte Westfalens. Eine wichtige Signaturengruppe enthält daher auch einige Hundert Bücher zur deutsch-jüdischen Geschichte, darunter viele Biografien, aber auch Arbeiten zu kulturgeschichtlichen Themen.

Von Anfang an waren wir daran interessiert eine Sammlung von lokal- und regionalgeschichtlichen Darstellungen anzulegen. Da viele Bücher und Schriften zur sogenannten grauen Literatur gehören, werden sie meist nicht in den Verlagslisten aufgeführt und sind nur schwer zu finden. Dennoch ist es uns gelungen durch genaue Beobachtung der „Szene“ und Hinweise, zahlreiche Publikationen zu erwerben. So entstand mit den Jahren eine umfangreiche Sammlung lokalgeschichtlicher Darstellungen zum jüdischen Leben in vielen Ortschaften Westfalens, ergänzt durch regionale Darstellungen.

Antiquarisches
Neben dem allgemeinen öffentlich zugänglichen Bibliotheksbestand gibt es noch einen kleineren wenige Hundert Bücher umfassenden antiquarischen Bestand, der Bücher vorwiegend aus dem 19. Jahrhundert und den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts enthält. Diese Bücher sind zum einen aus konservatorischen und Altersgründen separiert aufgestellt. Zum anderen zählt zu diesem Bestand aber auch eine ganze Reihe antisemitscher Schriften aus dem Kaiserreich, der Weimarer Republik und der NS-Zeit. Diese sollten nicht in einem frei zugänglichen Bereich aufgestellt sein.

Ein größerer Teil dieser antisemitischen Schriften gelangte über einen Nachlass zu uns.
Zu diesem Bestand gehören aber auch einige sehr interessante Nachschlagewerke wie die „Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Geschichte und Gegenwart“. Mitte der 1920er-Jahre war mit der Herausgabe begonnen worden. Die Redaktion lag bei Jakob Klatzkin und Ismar Elbogen. Der erste Band erschien 1928. Geplant waren fünfzehn Bände. Die Vollendung der „Encyclopaedia Judaica“ wurde durch den Nationalsozialismus verhindert, die Publikation nach dem zehnten Band 1934 eingestellt, bei dem dadurch historisch gewordenen Stichwort „Lyra“. 40.000 schon gedruckte Exemplare wurden in Leipzig vernichtet. Auf dem Nachlasswege erhielten wir auch die einzige vollständige deutsche Ausgabe des Babylonischen Talmuds von Lazarus Goldschmidt, erschienen im Jüdischen Verlag in Berlin von 1930 bis 1936.

Auch die 17-bändige englischsprachige Encyclopaedia Judaica, die auf der deutschsprachigen Encylopaedia aufbaut, gehörte von Anfang an zum Bestand, später durch die 2007 erschienene 22-bändige zweite Auflage ersetzt. Beides erwartet man schon in einer Bibliothek. Für uns allerdings ohne wirkliches Budget war es jedes Mal eine Kraftanstrengung, solch ein Lexikon kaufen zu können.

Der Bibliothek zugerechnet werden auch etliche Bücher aus dem 16. bis 18. Jahrhundert. Dazu gehören großformatige Folianten von 1561 und 1581 mit deutschsprachigen Ausgaben von Flavius Josephus wie „Der jüdische Krieg“ und „Von den alten Geschichten“. Es gibt aber auch einiges an antijüdischer Literatur wie zwei Ausgaben des „Entdeckten Judentums“ von Johann Andreas Eisenmenger: die Ausgabe aus Heidelberg von 1700, deren Auslieferung verboten wurde und die Ausgabe aus Königsberg von 1711. Von Christian Gerson, einem zum Protestantismus konvertierten ehemaligen Juden aus Recklinghausen, haben wir sein „Der Jüden Talmud“, gedruckt in Erfurt 1659. Zum Bestand gehört auch Luthers antijüdische Schrift „Von den Juden und ihren Lügen“, in der zweiten Auflage von 1543. Des Weiteren finden sich Werke von Johann Christoph Georg Bodenschatz und Johannes Buxtorf in dieser Sammlung.

Zeitungen und Zeitschriften
Nicht außen vor bleiben sollte auch unser Zeitungs- und Zeitschriftenbestand. Besonders ragt hier die Jüdische Allgemeine heraus. Die Zeitschrift haben wir in gebundener Form, fortlaufend von 1960 bis heute, vorliegen. Im digitalen Zeitalter von CompactMemory sicherlich eine überholte Form des Recherchierens. Es kann aber hilfreich sein, wenn man bei einzelnen Fragestellungen nicht genau weiß nach welchen Stichworten man suchen soll, die Jahrgangsbände einfach durchzublättern. Auch andere Zeitungen können jahrgangsweise gebunden eingesehen werden, wie die „Jüdische Zeitung“, die „Zukunft“ oder die „Jüdische Rundschau“.

Wichtige Provenienzforschung
Aktuell ist der antiquarische Buchbestand zum Objekt der Forschung geworden. Eine Reihe von Büchern haben Exlibris, handschriftliche Besitzereintragungen oder Eigentumsstempel von Bibliotheken und jüdischen Gemeinden. Damit sind sie zum Gegenstand der zurzeit im Museum durchgeführten Provenienzforschung geworden. Bei diesen Eintragungen wird angesetzt. Es muss angenommen werden, dass sie während der NS-Zeit verfolgungsbedingt entzogen wurden, so der Fachterminus. Gemeint ist, dass sie unrechtmäßig entwendet, gestohlen wurden. Inzwischen konnten zu einigen Büchern die Nachfahren bzw. Nachfolgeorganisationen der ursprünglichen Besitzer ermittelt werden. Gespräche über eine Rückerstattung finden statt.

Wie finde ich ein Buch?
Der Zugang zu den Büchern ist auf zweifache Weise möglich. Der OPAC-Katalog ermöglicht über ein Kreuzregister die Eingabe von Stichworten und Namen. So kann auf einfachem Weg die gesuchte Literatur gefunden werden. Für Bibliotheksbesucher, die noch immer die Nutzung eines elektronischen Katalogs scheuen, besteht die klassische Möglichkeit einer „Regalrecherche“, da die Bücher thematisch aufgestellt sind. Eine Übersicht des Signaturensystems erlaubt die schnelle Findung des gewünschten Themenbestands.

Leider ist die Besucherfrequenz in den vergangenen Jahren stark zurückgegangen. Holte man sich vor zwanzig Jahren die Informationen noch aus Büchern bei einem Bibliotheksbesuch, wird heute fast ausschließlich im Internet recherchiert.

Unsere Bibliothek bietet Interessierten immer noch die Möglichkeit, auf klassische Art, Literaturrecherchen durchzuführen. Nutzer*innen sind während der Öffnungszeiten stets willkommen.

(März 2021)